Handy, ESTA-Formular –  wo ist der Reisepass?! Der etwa 16. kurze Herzstillstand und ein sofort folgender Adrenalinschub lassen mich fahrig durch alle drei Jackentaschen, fünf Rucksacktaschen und vier Kamerataschen fahren – ah, da. Es kann losgehen, auf in die USA!

Frau Biesingers Blick schweift erstaunlich wach wirkend über die nur noch gedämpft tuschelnde Schülermenge. Seit der Schlafpegel bei allen drastisch unter das empfohlene Minimum gefallen ist, hat proportional auch der Lautstärkepegel abgenommen – und die Reaktionsgeschwindigkeit. Als die Türen der Silver Line sich endlich öffnen, schiebt sich die Gruppe nur langsam auf die Bussitze. Ein schwerer Fehler, verleiten diese doch einfach zu effektiv zu kurzen bis mittellangen komatösen Nickerchen. Aber auch diese Busfahrt endet, und nachdem das Meisterstück von zwei Umstiegen gelungen ist, dackelt unsere Entchen-Reihe von Koffern und Schülern Frau Kohler und Frau Biesinger hinterher, ungeachtet der großen Mall und des noch größeren Hotel-Foyers, hin zu dem Köpfer in tiefe, weiche Bettdecken.

Doch Mall und Hotel kommen auf ihre Kosten – schon am nächsten Tag läuft eine deutlich wachere Gruppe mit deutlich größeren Augen durch Boston. Egal ob Public Library oder Quincy Market, wen das Großstadt-Fieber aus Gewöhnung nicht mehr erfasst, der bestaunt alt-ehrwürdige Kirchen vor hunderten von Metern von Stahl und Glas, die in den leuchtenden Himmel ragen.

Auch beim Essen kommt niemand zu kurz: In der Mittagspause geht die Wanderung vorbei an Gerichten aus einem Drittel der Welt und genug Kalorien für die gesamte Woche. Schon jetzt hat man einiges über amerikanische Kultur gelernt: Poland Spring hat etwa die fusionierte Reichweite von Volvic, Ensinger und Urbacher zusammen, man zahlt nur mit Karte, weil das Münzsystem heillos verwirrt, und mit einer psychischen Krankheit wird dir zwar nicht unbedingt geholfen noch eine Behandlung durch eine Versicherung gezahlt, aber du kannst an einer Bandbreite von Studien teilnehmen, wie einen zahlreiche Poster in der U-Bahn aufklären.

Aber wir sind ja nicht zum Spaß hier – ok, nicht nur. Am Nachmittag jedenfalls heißt es schon zumindest etwas Konzentration aufzubringen, immerhin noch nur für das Verständnis der deutschen Sprache. Im Deutschen Generalkonsulat erhalten wir neben Anstecknadeln und der kurz irritierten Frage „Wer von Ihnen sind jetzt die Lehrerinnen..?“ vor allem viel Information zur Arbeit Deutschlandbegeisterter in den Vereinigten Staaten. Und wer schon lange seine Model UN Ambitionen als Diplomat in die Realität umsetzen wollte, kann hier alles von Qualifikation bis zu Zuzahlungen bei Stationierung in Afghanistan erfragen.

Aber auch für die Naturwissenschaftler wird bestens gesorgt: Ein Besuch am MIT lässt bei vielen das Herz höher schlagen. Ein besonderer Dank gilt hier wie immer Herr Bauer und auch (wenn auch indirekt so gleich doppelt Herr Bauer) Brooke, die uns die Türen in ein chemisches Labor öffnete – Türen, die willig eingerannt werden, müssen wir noch vor dem Besuch losen, wer statt zu Chemie ins Physik-Labor geht. Egal, wo man am Schluss das kreativ-geniale Chaos bestaunen kann: Das volle MIT-Erlebnis bekommen alle – Ein Gefühl von grenzenlosen Möglichkeiten und Ideen, in dem man nahezu Lust auf ein kleines Extra-Projekt für Herrn Schachner oder Herrn Schönborn bekommt. Auch die offizielle Führung versorgt uns mit einem Repertoire an nicht ganz so exklusiven Exklusiv-Infos, von Polizeiautos auf der Kuppel des MITs bis zu ganz legalen Roboter-Wettbewerben „zurück in die Zukunft“. Und wer sich langsam etwas klein fühlt, der kann auch von den Fehlern der Großen erfahren – Wenn ein Höhrsaal nämlich ästhetisch und praktisch vollendet auf nur drei Spitzen ruhen soll, aber dann doch auf die Hilfe von Stützen angewiesen ist. „Noch nicht genug geübt…“ hört man da im Hintergrund Herr Oganian murmeln…

Wer inzwischen noch nicht begonnen hat, die eigenen finanziellen Mittel ab- und als hoffnungslos unterlegen einzuschätzen, der tut dies am folgenden Tag, sobald unsere Gruppe durch die charakteristisch roten Tore den Harvard-Campus betritt. Oder vielleicht eher steif über ihn stiefelt, hat das Wetter an diesem Tag beschlossen, zwar nicht die Sicht, aber doch jeglichen Streifen freier Hat zu minimieren. Doch das kann uns nicht davon abhalten, mit leuchtenden Augen wie Harry Potter vor den schweren Türen des wirklich magisch wirkenden Speisesaals zu stehen – nur vergeblicher als dieser. Uns wird kein Essen serviert, dafür werden die aufgebauten Weltbilder zerstört, als die zentrale Statue des Campus weder den korrekten Namen noch Anlass noch Datum trägt. Wer also mal auf falsch angegebene Daten oder Quellen in der GFS angesprochen wird – ihr seid genauso gut wie der Künstler einer der meist fotografiertesten Statuen Amerikas.

Doch schlussendlich haben wir nicht zum Shoppen mal eben einen Tausender auf den Kopf gehauen, es wird Zeit, sich in die Schlacht zu begeben: Schuhe glänzend, Bügelfalte in der Hose, Jackett glatt gestrichen, Namenschild an die Brusttasche – ab jetzt heißt es nicht mehr „Hanna?“, sondern „Hey, Liechtenstein??“ oder zutreffender „Hey, Li-cten-sten??“, wahlweise auch „Belgium, do you like refugees?“ oder „Wait, Lictensten, is that in Africa?“. Die nächsten drei Tage gilt es unermüdlich zu verhandeln, versprechen, vertuschen und vor allem verzweifeln, wenn sich Russland und die USA bei Interaktionen in Syrien die Hand geben. Und so müde wir Tag für Tag aus den Committee Sessions hinaus gehen, so informiert tuen wir es, kennen wir immer mehr Veträge, low-budget Wasserfilter und Faktoren zur Einschätzung der finanziellen Leistungsmöglichkeiten von Ländern.

Bemerkenswert ist wohl vor allem unser aller weit gesteigerte Akzentfähigkeit: Hatte man in der 8. Klasse noch die Hörverstehensaufgabe zum Australien-Kapitel gefürchtet, sind wir nun in der Lage, Regionen Pakistans am Akzent zu erkennen und so Vertreter Deutschlands treffsicher zu orten. Zu guter Letzt können wir zumindest liebevoll über den fertigen Resolutionsstick streichen – die Welt haben wir sicher nicht gerettet, aber mit ein bisschen Glück haben wir sie zumindest nicht gesprengt, das ist doch auch etwas.

Erschöpft, aber stolz brechen die letzten Tage an – da heißt es, noch einmal die wichtigsten Sights mitzunehmen. Es geht über den Freedom Trail zum Bunkers Hill Monument, Stufe um Stufe hinauf und wieder hinunter, als uns mitgeteilt wird, dass wir auf das tatsächliche Monument leider nicht hinaufsteigen dürfen – vereiste Stufen. Mehr Erfolg haben wir dafür im Parlament, wo wir neben riesigen Fahnensälen auch Reihen von Portraits bestaunen können. Eine runde Führung, sieht man von den zwischenzeitlichen Versuchen, politische Bildung zu verbreiten, ab: „Das war, glaube ich, die schlechteste Erklärung, die ich je gehört habe“, Zitat Frau Biesinger.

Ein letztes gemeinsames Highlight gilt es noch in Salem zu erkunden: So vielen der Name bekannt ist, so wenigen ist bewusst, in wie kurzer Zeit sich hier ein ganzes Dorf der Hexerei beschuldigte. Hätte man sich mal einigen können, einfach also große Hexerei-Gemeinschaft zusammen leben zu können, hätten wir vielleicht doch noch einen Saal a la Hogwarts bestaunen können, so geht es zum Haus mit Sieben Giebeln und dem lokalen Hexerei Museum. Schlussendlich musste dann nur noch einmal ein roter Hummer-Hut aufgesetzt werden – denn um auch Vegetarier und Veganer von der lokalen Delikatesse überzeugen zu können, hat man sie thematisch in praktisch alles integriert: Kugelschreiber, Pullover, Magnete, Hosen – und Hüte.

Und schon kämpfen wir ein finales Mal mit den Ticketautomaten, dementieren ein finales Mal den Besitz jeglicher Drogen, und erhalten den letzten, 26. Herzinfakt, als es noch einmal den Reisepass zu suchen gilt. Aber wenn man nachts um 2 ausgeschlafen am Küchentisch im heimischen Deutschland sitzt, dann kann man zurück denken an eine prall gefüllte und nicht minder geniale Woche. Der Dank für diese gilt zu vielen, um sie alle zu nennen – doch erwähnt werden müssen alle zahlwilligen (Groß-)Eltern, unterhaltsamen Mitreisenden, der einfach magische Einhornrucksack von Frau Biesinger, und die mehr als widerstandsfähigen Nerven unserer beiden Lehrer – Thanks!

 

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