Fensterbretter sind ganz fantastische Orte für ein wenig ungestörte Philosophie, ein wenig Abdriften, fort von Realität und der Welt auf der anderen Seite der Scheibe. Wenn das nicht möglich ist, dann heißt das, etwas ist ganz eindeutig faul im Staate Dänemark – nur eben nicht nur in Dänemark. In ganz Europa. So faul, dass mich nicht die Relevanz oder Allgegenwärtigkeit des Themas auf der realen Seite des Fensterbretts hält – sondern Angst.
Antisemitismus, das ist wie ein böser Geist, den man einfach nicht los wird. Ungerecht vereinfachte Darstellung, wohl wahr. Aber aussagekräftig darüber, wie hilflos man sich fühlen kann, wenn plötzlich Studien von links und rechts belegen, dass immer mehr Jugendliche in ganz Europa glauben, Juden hätten zu viel Einfluss auf den Geldmarkt. Und Juden europaweit um die Zukunft ihrer Kinder fürchten. Was ist hier denn eigentlich los?!
Nicht umsonst gibt es einen Artikel zum Thema „Antisemitismus (bis 1945)“ – den meisten von uns kommt zunächst nur der Griff nach dem Geschichtsbuch, nicht nach der Tageszeitung in den Sinn. Und auch den Politikern scheint genau dieser Gedankengang am Nächsten gelegen zu haben, schließlich ist das große Schlagwort auch in der aktuellen Debatte immer eines: Erinnerungskultur.
Als Schüler kommt man an dieser nicht vorbei: Mehrfach wird der Nationalsozialismus thematisiert, besonders politisch versierte Erziehungsstile haben die Möglichkeit, auf Kinderbücher, die behutsam das genaue Gegenteil behutsamer Inhalte zu vermitteln, und im KZ war jede Stufe mindestens einmal – nichts für schwache Gemüter. Denn das ist der Holocaust einfach nicht. Umso verstörender, dass nach Umfragen von CNN rund 40% der 18-34 Jährigen „wenig“ oder „gar nichts“ darüber wissen.
Nur ein Drittel der Befragten waren Europäer – doch selbst hier geben Teile an, nie vom Holocaust gehört zu haben. Mit mehr als eindrücklichen Erinnerungen von Schuhbergen und Filmen über „Ratten“ sitzt man dann einfach nur sprachlos auf seinem Fensterbrett.
Wie man noch heute davon ausgehen kann, „die Juden“ hätten zu viel Einfluss auf den Geldmarkt, das will in meinen Kopf einfach nicht hinein. Er erinnert sich an Geschichtsstunden zum Zunftzwang, der Juden im Mittelalter nur noch den Geldhandel ließ. Im Mittelalter. Mittel. Alter. Wird die ING DiBa heute vielleicht noch vererbt und ist deswegen über Jahrhunderte in dem Besitz einer jüdischen Familie geblieben?
Doch nichts davon treibt mir direkt Angst in die Knochen. Sich haltende Klischees findet man zu nahezu jeder gesellschaftlichen Gruppe, und auch wenn diese für die betroffenen auf offene Nerven stoßen, mehr als verständlich, betrachtet man historischen und politischen Kontext (ohne hierbei Stellung beziehen zu wollen!), so sind sie doch selten für mehr als kritische und missbilligende Blicke verantwortlich und werden im persönlichen Kontakt schnell über Bord geworfen.
„Gas für die Juden“. Das macht mir Angst. Nicht 1940, nein, 2017. Nicht weit ab von „Erinnerungskultur“, nein, Berlin. Nicht unter der ältesten Generation, die nicht mit ständigen Mahnung aufgewachsen ist, nein, einer 16-Jährigen gegenüber. Und was kommt aus der Politik? Stimmen, die eine „lebendige Erinnerungskultur“ fordern. Ich kann an dieser Stelle kaum genug betonen, wie tief mich die Ergebnisse schockieren, wie unbedingt Handlungsbedarf zu bestehen scheint. Und trotzdem demonstriert jegliche persönliche Erfahrung meinerseits, dass an dieser Stelle Einsteins Wahnsinn – bei gleichem Handeln unterschiedliche Ergebnisse zu erwarten – greift.
Ich sehe mich als Teil einer Generation, die Erinnerungskultur erlebt hat und lebt. Noch vor Augen habe ich unsere Exkursion in der 10ten nach Berlin, in der wir mehr als einmal deutschen Widerstand thematisiert haben. Bilder aus dem KZ werde ich sicher nicht mehr los. Und ich bin dankbar dafür – kein Buch dieser Welt kann einem so klar machen, wie weit Menschen gehen können, wie fehlgeleitet eine ganze Nation werden kann. Ich hoffe, hier Missverständnisse ausschließen zu können: All das ist wichtig. Aber wenn Juden demonstrativ Zigarettenrauch ins Gesicht geblasen wird, dann braucht es mehr. Dann hat die Nachricht nicht bei allen ihr Ziel gefunden.
Dass „Jude“ wieder ein Schimpfwort geworden ist, das ist erschreckend. Angsteinflößend wird es, wenn Jugendliche es als Protest, als Auflehnung gegen eine Kultur des Schweigens sehen, es zu verwenden. Doch genau das passiert. „Das muss man doch noch sagen dürfen“ ist schon längst nicht mehr nur ein Spruch der AfD – von Bekannten habe ich ihn schon in Verbindung mit einer ganzen Menge Begriffe gehört, „ist ja schwul“, „faggot“, „Hitler!“ – mit zugehörigem Gruß – und „Jude!“. Irgendwie haben wir es geschafft, einer Jugend so allgegenwärtig den Terror des sogenannten dritten Reiches ins Gesicht zu schlagen, dass bei ihr Abwehrmechanismen hochgeschossen sind.
Irgendwie, irgendwo ist bei einem beängstigend großen Teil meiner Generation aus berechtigtem Schock abwehrender Spott geworden. Und das hat seine Konsequenzen. Denn mein Kumpel ist kein Nazi, kein „Assi“, er ist sicher nicht einmal gewaltbereit – aber seine Worte lassen mich zusammenzucken. Ich kann mit keiner Lösung aufwarten, gewiss nicht. Aber vielleicht einen Ansatzpunkt erkennen, zumindest für das, was ich erlebe: Zwischen Erinnern und Bedenken taucht immer wieder Schuld auf.
Zum Judentum sagt man als Deutscher mal besser gar nichts – und möglichst früh, möglichst eindrücklich soll einem klar werden, wie grausam Menschen sein können. Doch als Kind bleibt die Frage nach dem „Warum?“ kurzfristig immer präsent – und zumindest bei einigen scheint sie nicht mit der Notwendigkeit des Lernens aus der Vergangenheit beantwortet zu werden, sondern eher mit einer fehlgeleiteten Erkenntnis: Man wolle einen noch immer mit einer Schuld konfrontieren. Schuld besteht – doch sicher nicht für die Generation von Netflix, Einhörnern und Avocado. Das kommt Jahrzehnte zu spät.
Das sollte klar sein – doch ist es oft nicht. Denn hier geht es um ganz subjektives Empfinden. Natürlich, rational, wie könnte von Schuld gesprochen werden?! Aber was bleibt sonst als Erklärung, wenn man sich als Jugendlicher immer wieder Reden von Goebbels ansehen muss, obwohl man es gefühlt doch begriffen hat?
Verstehen Sie mich nicht falsch. Erinnern ist wichtig. Aber vor allem ist reden wichtig. Reden, und erklären. Und erkennen, wenn ein Schüler genug hat. Wenn Erinnerungskultur für die Zielperson umschlägt in das Einreden eines schlechten Gewissens. Denn daraus kann irgendwann das Gefühl wachsen, ungerecht behandelt zu werden, demonstrieren zu müssen. Demonstrieren zu müssen, dass man selbst das dann gar nicht so schlimm findet, weil sonst kein Ausweg zu bestehen scheint.
Das ist keine Rechtfertigung. Nicht einmal eine Erklärung. Nur ein Gedankengang – vom Fensterbrett eben. Aber wer weiß, ob er geteilt wird – irgendetwas muss geteilt werden, sonst wird mich die Angst noch länger auf dem Fensterbrett halten. Vergessen, das werden wir jedenfalls so schnell nicht – nur darüber reden, das schaffen wir noch immer viel zu selten – Projekte wie „Schule mit Courage“ sind hier noch lange nicht fertig.
Heute, am 3. Dezember, beginnt Chanukka – das Lichterfest. Licht sollten wir alle dringend öfter sehen – Licht kann man nur jedem wünschen, mal ein Licht der Hoffnung, mal der Erkenntnis.
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