„Ja, ich finde das auch total schön…aber es ist eben so viel Aufwand!“ Kritisch werden die Fingernägel betrachtet. „Ich nehme mir die Zeit dann einfach manchmal, so, um mich von Mathe abzulenken.“ – „Ah, ja, das kann ich verstehen.“ Beidseitiges Lachen, ganz entspannt liegt die eine auf dem Bett, lehnt die andere in der Tür, dann verebbt das Lachen. „Gut, ich muss jetzt auch mal weiter…“ – die Welten trennen sich wieder. Schülerin, Lehrerin, Sympathie, aber professionelle Distanz. Wenn das Sie nicht wäre…

Es ist ein seltsamer Moment, wenn man hört, wie Lehrer mit dem Vornamen angesprochen werden. Es klingt so jung, so direkt. Und noch seltsamer ist es, wenn man sich ertappt, wie man selbst gerne so mit Ihnen sprechen würde. Sicherlich kein LGH-spezifisches Problem, tritt es doch hier vermehrt auf: Die Realisation, dass Lehrer auch nur Menschen sind. Und zu großen Teilen Menschen, die man nicht besonders unsympathisch findet. Der Kontakt ist um ein so vielfaches enger und der Altersdurchschnitt der Lehrer so viel geringer, dass man nicht umhin kommt, die nötige Distanz ab und an zu verfluchen.

Zutage tritt das wohl am deutlichsten in GM-Gesprächen: Der Prozentsatz zielführender Organisation ist dem lockerer Unterhaltung bis zu psychologischer Beratung weit unterlegen. Und zu den Gesprächen gehen die meisten von uns doch schlicht gerne – nicht um über die Schule, sondern vor allem, um über Gott und die Welt zu reden. Und wenn das Sie nicht wäre, dann würde man vermutlich noch weitaus öfter reden. Jedenfalls aus Schüler-Perspektive, wer weiß, ob wir für die Lehrer nicht doch alle nur kleine, unreife Kinder sind – die Lehrer zeigen sich jedenfalls oft als weit mehr als nur gefürchtete Respektspersonen. Und wer hat nicht schon einmal in einem Lehrer genau das gesehen, was im Umfeld sonst selten gefunden wird?

Das kann praktisch alles sein, von wirklich gutem Musikgeschmack bis zu Leidenschaft für Nullstellenbestimmung. Vielleicht der gelungene Spagat zwischen kindlicher Begeisterung und verantwortungsvollem Ernst, vielleicht auch nur die Hingabe zu einem Fachgebiet, für die man sogar unqualifizierte Fragen nach der Thematik selbst und der Sinnhaftigkeit derer toleriert. Aber irgendetwas gibt es bei fast jedem an einem Lehrer, dass ihn mit Wehmut an die Freundschaft denken lässt, die ohne das Sie vielleicht möglich wäre.

Wir alle übertreten die Grenze, die uns davon abhalten sollte, schon oft genug. Und was den physischen Schmerz einen erst wirklich durchzucken lässt, ist ihre Berechtigung. Und wenn man noch so penibel auf die Objektivität jeglicher Noten achtet, allein die Existenz weiterführender Information macht doch den entscheidenden Unterschied – denn am Schluß wird trotzdem mehr Verständnis für den Schüler per Du als den Schüler per Sie aufgebracht werden. Auch die Utopie eines Kant’schen Lehrers mit dem stählernen Willen, eine jede Handlung auf ihre Anwendbarkeit bei jedem Schüler zu überprüfen, findet sich in einer Sackgasse wieder: Entweder verschafft erweitertes Verständnis einen unfairen Vorteil, oder der Mangel dessen belastet jegliche Freundschaft.

Beugt man sich nun in tiefer Akzeptanz der gesellschaftlichen Norm? Dann bleibt nicht nur eine Freundschaft im Konjunktiv, sondern es bleiben vor allem eine Menge ehrlicher Komplimente irgendwo in der Luft hängen. Schon mal versucht, „Sie sehen heute wirklich gut aus.“ weder ironisch noch seltsam klingen zu lassen? Hoffnungslos, das Endresultat besteht in einem gedankenverlorenen Starren oder schlimmstenfalls in der direkten Kollision mit einer Säule.

An etwa diesem Punkt würde ein 5-minütiger Dauerlauf gegen die Zimmerwand dem physischen Schmerz dieser Überlegung in etwa gleichkommen. Es bleibt ein Spiel ohne Sieger, ein Kreislauf, der mein Gehirn zwar beschäftigt, aber keinen Schritt weiter bringt. Er endet für gewöhnlich mit einer simplen Erkenntnis: Irgendwann ist es Zeit für fünf peinliche Minuten Ehrlichkeit, die auf einen Schlag jedes „Vielleicht“ eliminieren können – und vermutlich in einem ruinierten Abend und einer denkwürdigen Geschichte enden. Doch, das qualifiziert sich zumindest als Perspektive. Und ist bei einer Datierung auf den Abiball auch noch weit genug entfernt – weit genug für ein paar weitere Krisen, ein paar weitere Kreisläufe.

Oder in der schlichten Erkenntnis, dass das alles mit dem Status des Alumnus einfacher werden wird. Gedanken kommen und gehen und werden mit Sicherheit eine kurze Halbwertszeit besitzen, aber die Basis einer grenzenüberschreitenden Sympathie bleibt konstant und quälend. Allein das ist eine gewisse Argumentation, das Abitur hinter sich zu bringen: Ich wollte schon immer mal fragen, in welchem Ausmaß man als Lehrkraft über Schüler lästert. Der Tag dieser Unterhaltung wird kommen – schon früher, wenn das Sie nicht wäre…

Vom Fensterbrett aus wirkt alles plötzlich ein kleines bisschen kleiner – Probleme liegen im Schulranzen in gutem Sicherheitsabstand, geliebt-gehasste Menschen bewegen sich in kleineren Varianten weit unter einem, und von hier oben scheint man sogar nahezu eine Welt jenseits des Campus zu erkennen.Mit einer Tasse Tee, direkt über der vielleicht sogar wirklich funktionierenden Heizung, kann der Blick ein wenig weiter schweifen – und ein wenig weiter betrachten, was im Alltag untergeht.

 

Wechsel zwischen den Pronomen manchmal etwas seltsam gewählt

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