Eingekuschelt in 10 cm dicke, auf fünf Meter Abstand fluselnde Flauschdecken – oder doch eher entnervt und augenrollend das hektische Treiben in der Küche beobachtend? Egal, wie wir Heiligabend im Kreise unserer trauten Familie daheim verbringen, kaum ein LGHler kommt an diesem Abend um den Gedanken herum, wie dieser Abend wohl „daheim 2.0“, im hoffentlich schneebedeckten Universitätspark, aussehen würde.

Während also die letzten Geschenke mehr oder wenig künstlerisch in glänzendes Papier gewickelt und mit glitzernden Bändern umschlungen werden, zum 43. Mal auf Chefkoch geprüft wird, ob der Braten wirklich 45 min in den Ofen soll, und im eigenen Zimmer noch schnell ebenso künstlerisch-variabel ein Bild für die Großeltern, na ja, gezaubert wird, wollen wir uns ein wenig Zeit zum Tag-Träumen nehmen…

06:05

Schulleiter Herr H. räumt, ein wonniges Lächeln auf den Lippen, eine zu Bode gefallenen weiße Riesen-Schneeflocke aus dem Weg, und betritt dann theatralisch die noch menschenleere Mensa. Während er im Kopf bereits abhakt, an welchen Tischen er nachher zum Mensadienst erinnern muss, füllt er seinen Teller mit Magenbrot, Oblaten und Butterplätzchen. Dann setzt er sich entspannt an den Tisch in der immer noch leeren Mensa und wartet, leise einen Taizé-Choral summend, auf die ersten Schüler.

06:10

In Haus 12/2 zerreißt der erste schrille Weckton den feinen Schleier dunkler Stille: Katja L. hat ihr Chemie-Protokoll bis zum aller-, allerletzten Zeitpunkt herausgezögert und muss sich nun sowohl diesem als auch dem Kissen der Zimmerpartnerin stellen, welches etwas verzögert, dafür vehement in die Richtung des Weckers geschleudert wird. Ebenso verschlafen wie genervt wird der Laptop aufgeklappt und nach einer fachsprachlich korrekten Formulierung für „blubbert“ gesucht.

06:30

In Haus 25 wird 20 min später, aber dafür noch herzloser geweckt: Mentorin Frau S. befindet sich mit einer Bluetooth-Box, der Spotify-Playlist „Most Beautiful Christmas Songs EVER <3“ sowie einem süffisant-sadistischen Grinsen auf den Lippen auf der Tour Ihres Frühdienstes. [Anmerkung der Redaktion: Aufgrund mehrerer Beschwerden wurde an dieser Stelle die ursprüngliche Wortwahl, „Weckdienst“, variiert. Begründung: „Wir sind nicht hier, um euch zu wecken!!“] Der verzweifelte Griff zahlreicher Mittelstufen-Schülerinnen zum Stecker ihres Routers bleibt erfolglos, Frau S. hat für diesen Tag bereits seit Wochen Datenvolumen gespart.

07:10

Katja L. exportiert mit einem Seufzer die PDF-Datei „Wikipedia-Artikel-Medley ARGHHHH“ auf ihren Stick, während ihre Zimmerpartnerin Lena H. wie versteinert vor ihrer Pinnwand über dem Schreibtisch steht. Nach mehrfacher Anfrage, ob noch eine Zimmer-Kommunismus-Milch da sei, fällt dies auch Katja auf. Physischer Kontakt führt bei der Betroffenen zu einer explosionsartigen Überreaktion, aus deren Wortschwall sich die Problematik eines, Zitat: „sowasvonvergessene[n]drecksüberflüssige[n]“, Wichtelgeschenkes herausfiltern lässt. Um 07:12 blockiert der Proxy die Google-Anfrage „City-Center Öffnungszeiten Heiligabend“ aufgrund potentiell gefährdender Inhalte.

07:20

Leon R. betätigt ein letztes Mal die Snooze-Taste seines Weckers. Entgegen seiner üblichen Gewohnheit wird er heute nicht bis 07:30 im Bett bleiben, schließlich gilt es noch, ein Chemie-Protokoll für Herrn T. zu vollenden.

07:25

Der Gong verhallt in der leise tuschelnden Mensa. Wer auch immer heute noch sein Frühkonzil hätte halten sollen, hat dies definitiv nicht mehr vor. Mit leichter Panik in den Augen entscheidet sich der diensthabende FSJler, da Mentor Herr F. lediglich schweigend, wenn auch belustigt, mit verschränkten Armen am Lehrertisch sitzen bleibt, ein Weihnachtslied als Ersatz anzustimmen. Die erste wacklige Strophe „Oh Tannenbaum“ wird nach 27 Sekunden von einer noch schieferen, dafür deutlich kraftvolleren Version „Last Christmas“ vom (aufgrund der heute Morgen bereitstehenden Plätzchen) gut gefüllten Oberstufentisch übertönt.

07:30

„Herr R. ist immer noch nicht da“, konstatiert Frederik W. und fügt mit einem Blick auf die Uhr hinzu: „In fünfundzwanzig Minuten dürfen wir gehen.“ „Auf meiner Uhr sind es nur noch achtzehn Minuten und siebenunddreißig Sekunden“, berichtigt Ulrike K.. Der Bio-2-Kurs beschließt einstimmig, sich auf Ulrikes Uhr zu verlassen.

07:38

„Herr R. ist immer noch nicht da“, konstatiert Frederik W., und Ulrike K. fügt mit einem Blick auf die Uhr hinzu: „In zehn Minuten dürfen wir gehen.“ Der Bio-2-Kurs beschließt einstimmig, dass Ulrikes Uhr zwei Minuten nachgeht.

07:38:42

Eine Welle kalter Panik überkommt Katja L. bei dem Anblick eines 7-seitigen Ausdrucks griechischer Buchstaben in wilder, scheinbar willkürlicher Kombination mit $ und %-Zeichen. Das hektische Betätigen des Druck-Knopfes führt allerdings nicht zur Bereinigung dessen Fehlinterpretation der Druckdatei, sondern eher zum Gegenteil: Nach weiteren zwei Seiten voller selbst für Sokrates unverständlicher Schriftzeichen konstatiert der Drucker Hunger, anders formuliert, den Mangel an weiterem Papier, was angesichts der sich stapelnden Verpackungskartons von Druckerpapier nahezu ironisch erscheint.

07:39

„Herr R. ist immer noch nicht da“, konstatiert Frederik W., „vielleicht kommt er ja gar nicht mehr. Wie lange noch, Ulrike?“ „Noch sieben Minuten…“, kommt es von dieser. Der Bio-2-Kurs beschließt einstimmig, dass es ja nichts schaden kann, die Rucksäcke samt Schüler in der hinteren Ecke zu deponieren, falls Herr R. doch noch kommen sollte.

07:39:21

Mit Freudentränen in den Augen überquert Katja L. den Schulhof auf dem Weg zu den Naturwissenschafts-Räumen, innerlich mehrere Stoßgebete zum Lob und zur Ehre der Sekretärin, die ihr in letzter Minute und mit angesichts des Datei-Namens amüsiertem Gesichtsausdruck einen fehlerfreien Ausdruck ihres Protokolls überreicht hat.

07:40:00

„Nur noch sechs Minuten! Wir können es schaffen!“, verkündet Ulrike S. die aktuelle Lage.

07:40:10

Herr R. ist mittlerweile da. Sein City-Roller hatte einen Platten, erklärt er. Die Schüler und Schülerinnen, die ganz unauffällig unter dem Klavier liegen oder in ihren grauen Sweatshirt-Jacken farblich perfekt mit der Holzvertäfelung verschmelzen, fordert er auf, mit ihm die spannende Welt der Bakteriophagen zu erkunden.

09:05

Der Geschichtsunterricht von Herrn J. in der Stufe 8 wird vorzeitig beendet, Herrn J. stürzt aus dem Raum, über die Schulter rufend, man solle einfach einen anderen Lehrer fürs Zuschließen fragen. Um 09:05:12 hält Herr J. nun als Erster keinen dampfenden Becher Punsch in den Händen: Die gekauften 8 Liter „Punsch“ befinden sich bereits in den Bäuchen der sechs eingeteilten und fünf schnorrenden 12. Klässler, die mit dem Finger an der Nase versuchen zu bestimmen, wer bei Norma neuen Punsch besorgen soll.

10:43

Aus dem ersten Stock des Schulgebäudes wird ein singender Plüsch-Elch in weitem Bogen auf den Schulhof geworfen, wo er mit einem letzten „j-j-j-j-jingl…“ verstummt. Die letzten 17 min Mathematik-Unterricht der Klasse 10b verlaufen ruhig, allerdings ohne Schülerbeiträge: Die Klasse starrt mit großen Augen aus dem Fenster, in Gedanken bei dem flauschigen Klassenmaskottchen, das nun nicht länger eine jede gelungene Teilrechnung an der Tafel zum Lob besingt.

11:56

Im Religionsunterricht von Frau U. verlieren die ersten Schüler, den Kopf benebelt von Mandarinen- und Zimtduft, denselbigen und setzten ihre mündliche Note des folgenden Trimesters aufs Spiel, standhaft protestierend, Jesus sei erwiesenermaßen nicht im Dezember geboren. Auf der anderen Seite machen sich erste Schüler auf, teils überzeugt, teils NC-zielend, aus der Lernmittelausgabe Bibeln herzuschaffen. In Raum 1.01 daneben befindet sich der Ethik-Kurs vor ähnlich verhärteten Fronten: Während einerseits vehement gegen die Indoktrination durch das obligatorisch „Oh du Fröhliche“ am Konzert gewettert wird, hält sich der Widerstand vehement am Gegenargument fest, dann bliebe, um Textsicherheit zu garantieren, ja nur noch „Last Christmas“, und das sei zwar nach Kant widerspruchsfrei denkbar, aber keineswegs wünschenswert.

12:02

In 1.01 wird inzwischen wieder vereint “ You’re a Mean One, Mister Grinch“ gebrüllt, dafür wurde sich mehrheitlich utilitaristisch argumentierend entschlossen, da a.) Religionen jeglicher Art außenvor gelassen werden und b.) ein gemeinsames Feindbild immer die Gemeinschaft stärkt.

12:02:35

Angesichts der ausgelassenen Stimmung in 1.01 eskaliert die Lage in 1.04: Erste Bibeln durchqueren fliegend den Raum, von der anderen Seite des Raums wird eine Gastrede des Geschichte 4stündlers zum Thema „Historische Fehldarstellungen in Heiligen Schriften“ gefordert. Ruhe kehrt erst 10 min später mit dem Vorschlag ein, ob man nicht einfach lustige Weihnachtsvideos auf Youtube anschauen wolle, man hätte da schon Erfahrung aus dem vorherigen Unterricht.

12:30:00

Die Uhrzeit wird, wie immer, punktgenau mit einem lauten Schrei aus der hintersten Reihe verkündet: „Es gibt jetzt übrigens Essen.“ Noch ohne eine Antwort abzuwarten steht Sophie B. auf und stürmt in Richtung herrlich duftendem Seelachsfilet. [Ok, ok, da gerät das mit dem Träumen ein bisschen außer Kontrolle…]

12:32

Mit einem Teller undefinierbarer Beladung kehrt Sophie B. an ihren Tisch zurück. Das allerseits bekannt wie berüchtigte Stück Meeresbewohner befindet sich an diesem von Glockenklängen durchsetzten Tag unter einer ähnlich festlich angehauchten Decke Zimt-Koreander-Soße, getoppt von einem kleinen Klecks Preiselbeersoße. Erste Fragen, wer eigentlich schon einen Führerschein besäße und zu McDonalds fahren könne, werden laut. Um 12:32:42 blockiert der Proxy die Suchanfrage „McDonalds Öffnungszeiten Heiligabend“ aufgrund potentiell gefährdender Inhalte.

13:37

Nina G. rollt mit einem bestimmt absolut legal von Norma für einen Euro erworbenen Einkaufswagen, in bester Gesellschaft von 134 schillernden Weihnachtsbaumkugeln, 5 funktionstüchtigen und 3 dekorativen Lichterketten sowie exakt 12 Weihnachtsmannmützen in Druckerpapierkartons, über den menschenleeren Campus. Menschenleer? Nein, denn einem kleinen Teil der LGH-Familie waren die Oberstufenmentoren nicht zugetan: auf dem wenig beschwungenen Weg zu letzten planmäßigen Doppelstunde zieht Lena H. grummelnd an ihr vorbei, lediglich ein „dannauchnochdrecksüberflüssigeswichtelgeschenkbesorgen“ dringt zu Nina G. durch den vierfach gewickelten Schlauchschal mit Radius 5 m hindurch.

13:41

An den Internatshäusern angekommen muss Nina G. feststellen, dass man über die Rampe zu 12/2 lediglich über Stufen hinauf zum Bistro gelangt, der Aufzug im benachbarten Haus jedoch nur über Stufen erreichbar ist. Kurzentschlossen unentschlossen wird nach dem Handy gegriffen und ein Aufruf an die zu freiwilligende Stufe gestartet.

13:41:56

Beim 267. Neuladen der Suchanfrage ist Ropa, verzeihung, Bürokom einen Moment unaufmerksam: Die Verbindung wird hergestellt und Lena H. muss mit Schrecken feststellen, dass ihr noch exakt 18 Minuten und 4 Sekunden für das Auftreiben ihres Wichtelgeschenkes zur Verfügung stehen. In eben diesem Moment betritt Frau C. Punsch-beschwingten Schrittes 1.06, um mit Lebkuchen versorgt die erkenntnistheoretische Relevanz Rudolphi Rubrinasi zu erörtern.

13:42:02

Nach einer hektischen Erklärung durch Lena H., die selbst für ihre Verhältnisse unterdurchschnittlich viele Leerzeichen enthielt, stürzen sowohl sie als auch Frau C. aus dem Raum, um sich in letzter Minute um ein Wichtelgeschenk zu bemühen.

13:45

Nachdem Bitten, Flehen, das in Aussicht Stellen von Frei-Punsch und bevorzugter Lebkuchen-Wahl sowie der Beförderung zur Zimpfelmützen-Zuteilung auf 12 präferierte Opfer gerade einmal 3 mögliche Helfer von ihren Betten aufstehen gelassen haben, ist es die Drohung, Frau S. die Musikauswahl zu überlassen, die stattliche 21 tragwillige Helfer um Nina G. auf dem Hof versammelt und eine Massenwanderung von Weihnachtsschmuck ins Bistro in Gang setzt. Bereits um 13:47 befinden sich 5 funktionstüchtige und 3 dekorative Lichterketten, 11 Mützen im Karton und eine auf dem Haupt getragene Weihnachtsmütze sowie 132 Kugeln und ein kleines Häufchen glitzernder Scherben im 3. Stock.

13:49:43

Außer Atem und wetter-untypisch verschwitzt finden sich Frau C. und Lena H. vor der verschlossenen Tür des City-Centers wieder. Aufgrund des massenhaften Andrangs Gmünder Stadtbewohner auf der Suche nach Last-Minute-Geschenken für die eher Lieben als Liebsten wurde bereits um 12:34 geschlossen, da a.) alle Pralinen im mittleren Preissegment (vornehmlich Milka „Alles Liebe in 35 Schokogrüßen“ und Lindor „Exklusiv-limitierte-drei-Pralinen-Meisterauswahl“) ausverkauft waren und b.) dem Filialleiter noch ein Geschenk für den Gatten fehlte.

14:05

Tim K., Stufe 8, beginnt auf seinem College-Block mit herbstlicher Motivik eine Liste der gefundenen Fehldarstellungen der Weltkarte im Bistro. Mit einem 7-köpfigen Team werden eifrig fehlerhafte Verläufe der Küstenlinie Madagaskars analysiert, während WG-Präsident Lars B. sich ein hitzige Auseinandersetzung mit Klara T. liefert, welcher der beiden im letzten Turnus als „Schönste WG“ prämierten WGs nun die Oberaufsicht über die Gestaltung des Bistros obliegt.

14:06

Auf dem Weg zum Internat werden Lena H. und Frau C. vehement auf die mangelnde Einhaltung der Ordnung, explizit des Verweises auf wettergemäße Kleidung, durch deren offene Jacken und abgelegte Schals hingewiesen. Die kurze Abwägung zwischen einer Korrektur dessen und der sich aktuell noch in hitziger Wut äußernden Verzweiflung angesichts nonexistenter Wichtelgeschenke fällt zu Ungunsten der auf dem Boden hinterherschleifenden Schals aus.

14:15

Klara T. beordert erste ihrer WG-Mitglieder zum Lichterketten-Aufhängen, während Tim K. und seine Kumpanen inzwischen Nylonfäden an Weihnachtsbaumkugeln knüpfen, wenn auch gelegentlich verstohlen zur Karte blickend und die Maßstabstreue des Abstands zwischen Südamerika und Neuseeland einschätzend. Lars B. und Tine U. sind mit dem Wichtigsten betreut: Ein weihnachtliches Popcorn-Rezept auf Pinterest auftreiben, das sowohl von Tine mit „Nein wie fancyyyy!“ als auch von Lars (meist „Joa, okay.“) positiv kommentiert wird.

16:05

Im schwindenden Licht beginnen die Internatshäuser zu strahlen und funkeln. Sacht wippende Lichtpunkte weisen auf die Weihnachtsbäume hin, die für die Bescherung nach oben ins Bistro transportiert werden. Auf den Fluren der WGs kann man sich dem zauberhaften Duft perfekt getimeter Backaktionen einfach nicht entziehen, während auf der Campuswiese erste kleine Grüppchen zum fröhlichen Schneemann bauen antreten. Fast scheint es ein Stück Weihnachtsmagie zu sein, die sich in der ruhigen Vorfreude des Universitätsparkes offenbart.

16:05:03

Eine Weihnachtskugel trifft Lars B. an der Schulter, unter dem glitzernden Scherbenstaub bleibt ihm das „Joa, okay.“ im Hals stecken. Um das Smartphone-Duo herum ist ein erbitterter Kampf entbrannt, der nun auch nicht mehr vor Kollateralschäden zurückschreckt: Nachdem um 15:46 von Tim K. angemerkt wurde, die Lichterketten würden aber nicht ganz symmetrisch hängen, musste Katja T. feststellen, dass eine Hälfte des Raumes mit Deutsch-, die andere mit Mathebüchern als Abstandhalter gearbeitet hatte. Durch die rasante Ekalation der Schuldfrage und das explosionsartige Aufbrausen weiterer Konflikte („Naturwissenschaften sind eh‘ viel besser als Sprachen!“) befindet sich inzwischen der gesamte Raum in einem regellosen Schlagabtausch.

16:05:04

Die ersten Klänge „Jingle Bell Rock“ aus der oberen WG wecken bei Lena H. eine sorgfältige verdrängte Erinnerung an die für 16:00 angesetzten Proben des Chors für heute abend. Betend, dass noch genug Kopien der Noten vorhanden sind, sprintet Lena H. vorbei an ihrer Tasche, in der sich die Chormappe mit vier Ausführungen eben dieser befindet, aus der WG hinaus in Richtung Aula.

16:05:05

Frau P. wird vom druchdringenden Schrillen des Diensthandys aus dem meditativen Lackieren Ihrer Fingernägel gerissen. Aus dem Lautsprecher des Nokia-Backsteins dringt die Stimme von Herr K. zu ihr durch: „Vanessa, hast du schon gekocht?!“. Nach einem beidseitig entrüsteten Dialog müssen Frau P. und Herr K. erkennen, dass die E-Mail mit Betreff „Kochplan Heiligabend“ fälschlicherweise an den ursprünglichen Verteiler „Pasta-Abend“ versendet wurde, alle dabei erreichten Lehrer die Nachricht jedoch mit der Argumentation, bereits für diesen gekocht zu haben, friedlich in den Papierkorb verschoben haben.

Noch 01:54:55 bis zur Bescherung.

01:53

Ein Schneeball trifft Lena H. vollkommen unvorbereitet an der rechten Schläfe. [Anmerkung der Redaktion: Unvorbereitet ist an dieser Stelle auf den mentalen Zustand Lena H’s bezogen. Der Schneeball selbstverständlich befand sich seit Ausfall der schleudernden Zentripetalkraft auf einem eindeutig vorhersehbaren Pfad und konnte sich dementsprechend psychisch auf den Ausgang der Situation einstellen.] Die zunächst liebliche Szenerie der Schneemann-Bauenden-Siebtklässler hat sich rasant zu einer gnadenlosen Life-or-Death-Schneeballschlacht entwickelt, die nun erste Zivilisten trifft.

01:34

Die letzte Weihnachtskugel trifft Neuseeland, knapp Tim K. verfehlend, der dabei war, den genauen Abstand zu Peru mit einem Geo-Dreieck zu bestimmen. Die Partei „Deutsch-Buch“ greift nun nach der Besteckschublade, um ihre Position hinter dem Tresen weiter halten zu können.

01:23

Frustriert muss die opferbereite fünfköpfige Mentorengruppe, die die Essenbeschaffung für 240 hungrige Teenager-Münder auf sich genommen hat, feststellen, dass nicht einmal der fünfminütige Gang zu Lidl sie mit einem Restposten Spekulatius belohnt. Zumindest einen Einkaufswagen Spaghetti und 26 Gläser Arrabiata-Soße kann die Gruppe 12 Minuten später ihr Eigen nennen.

01:15

Nach dem fünften Anlauf einer dreistimmigen Einsingübung, dargeboten von insgesamt etwa 17 verschiedenen Einzelstimmen in mehr oder weniger definierbaren Lagen, gibt Herr F. seine Ansprüche auf und die ersten Notenblätter aus. Seine Abschätzung, etwa für die Hälfte des Chors erneut Noten bereitzustellen, stellt sich als um 37% zu positiv heraus. In sich Kopien teilenden Duos wird weitere 3 min später „Oh du Fröhliche“ angestimmt.

01:14

Das Schrillen des Handy-Weckers von Lena H. verhallt in stillen WG in Haus 12/2. Die als Wichtelgeschenk angedachten Plätzchen im Ofen glänzend gold-gelb im schwarz-verkrusteten Backofen, der über die Putztage hinweg bereits stärker ätzenden Substanzen als alle Bechergläser der Chemie-Fachschaft gemeinsam ausgesetzt war.

01:04

Mit dem lediglich mit zwei zugedrückten legal für einen Euro erworbenen Einkaufswagen findet sich die Gruppe Mentoren auf dem Internatshof wieder, wo sie die Fehlkonzeption der Internatsanlage an eigenem Leib erfahren müssen. Während sie über die Rampe der Oberstufenhäuser nur Treppen erreichen kann, müssen eben solche überwunden werden, um um Aufzug im benachbarten Haus zu gelangen. Kurzentschlossen unentschlossen wird ein Hilferuf in alle bestehenden Lehrer-Whatsapp-Gruppe, nicht ohne süffisanten Kommentar bezüglich der „Campus-Gang“, ausgesandt.

00:56

In WG O. gibt der Akku des Handys von Lena H. seinen Kampf gegen die reglose Stille der WG auf und beendet den Weckruf „Drecksüberflüssigeswichtelgeschenk“. Im Ofen verbinden sich die ersten Plätzchen zu einem schnell gigantisch anwachsenden braun-schwarzen Lebkuchen.

00:43

Eine Weihnachtsmütze trifft den verdutzten Herrn K. direkt ins Gesicht, als dieser nichtsahnend die Tür zum Bistro öffnet. Vor ihm offenbart sich ein Schlachtfeld zerborstener Weihnachtskugeln, nunmehr 2 funktionstüchtiger und 6 verknoteter Lichterketten und vereinzelter Löffel und Gabeln, Relikte aus einer Zeit, bevor der Tresen fiel und von der „Mathe“-Partei, im Kampf überlegen dank Trio-gestählter Nerven, eingenommen wurde. In der Mitte des Raumes wird Tine U., die zerstörte Popcorn-Maschine angesichts des nun endlich von ihr gefundenen perfekten Rezeptes beweinend, von den nun vereinten Parteien getröstet.

00:42:46

Zum ersten Mal in seiner sonst oft Geschirrtuch-bedeckten Existenz wird der Rauchmelder in WG O. von schwarz-grauem Rauch erreicht. Sein Warnton reißt im ganzen Internat Schüler von Geschenkpapier, Geschenkbändern und Wii-Spielen los.

Noch 35 Minuten bis zur Bescherung.

Über die Campus-Wiese verteilt finden sich Siebtklässler, die nicht wissen, wo der Sammelpunkt sich offiziell befindet, und Zwölftklässler, die nicht mehr wissen, wo der Sammelpunkt sich offiziell befindet, dafür allerdings, dass das Elementartier des Feuers der Salamander ist.

Lehrer blättern im Austragebuch, mit der eigenen Erfahrung einer Lidl-Wanderung bewundernd, wo doch noch der ein oder andere Schüler den Weg auf sich nahm.

Der Chor, der sich bereits gesammelt am Beach-Volleyball-Feld befand, da „ein bisschen frische Luft es auch nicht mehr schlimmer“ machen würde, setzt in die erste Strophe, „Welt ging verloren“, ein.

Es sind Lehrer, Schüler – wie du und ich. Lehrer und Schüler, denen ein Weihnachtsfest mit einer unter 240-köpfigen Familie einfach nicht genug war.

 

Also, das war’s? Der Universitätspark in Stenkelfeld (wer das nicht kennt – mal bei Youtube eingeben)? Na ja, eine halbe Stunde hätten wir ja noch. Eine halbe Stunde, die, wie ich das Improvisationstalent des LGHs kenne, für eine ganze Menge reichen würde – vom rasanten Aufräumen des Bistros über kommunistisch-angehauchtes Zusammenlegen neuer Weihnachtsdekoration bis zur Großküchen-Kochaktion, an die einige LGHler ohnehin von regelmäßigen A-Sonntagen gewöhnt sind. Und am Schluss wäre es mit Sicherheit noch immer sowohl ein frohes als auch ein Fest.

Damit gilt es zumindest eines noch zu sagen: Danke.

Danke dafür, dass wie auch an Heiligabend mit allem Humor dennoch glücklich an den Universitätspark zurück denken. Dass trotz allem Chaos und allen vermutlich scheiternden Plänen eines klar ist, es wäre ein frohes Fest – dank allen Lehrern, die mit Herz und Seele immer wieder bei wahnsinnigen Schulaktionen dabei sind, und allen Schülern, die neben Hausaufgaben-Gebirgen immer wieder die Organisation derer auf sich nehmen.

Dass wir so friedlich grinsend auch in den Ferien an unsere Schule denken können, ist euer alljährliches Geschenk an uns – dieser Dank zumindest der Versuch eines Geschenkes an euch.

Uns allen damit, wo auch immer wir nun sind – Frohes Fest!

 

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