Es war dunkel. Schneeflocken tanzten durch die kristallklare Luft. Die nächtliche Stille wurde nur gelegentlich durch ein vorbeifahrendes Auto gebrochen. Die Straßen des verschneiten Vororts waren auf den ersten Blick verlassen. Nur das Licht, das aus den Fenstern der Häuser auf den Gehweg fiel, zeugte davon, dass dieser Ort bewohnt war.

Oliver ließ seinen Kopf auf das große Kopfkissen sinken. Es war so groß und weich, dass sein Kopf fast darin verschwand. Seine Mutter deckte ihn zu. „Gute Nacht, mein Schatz“, sagte sie und strich ihm liebevoll über die wuscheligen Haare. „Mal schauen, was morgen früh unter dem Weihnachtsbaum liegt… Doch jetzt wird erst einmal geschlafen.“ Sie lächelte und stand auf. „Warte!“, rief Oliver, bevor sie die Tür schließen konnte. Er setzte sich auf. „Ich verstehe nicht…“ Er stockte. Seine Mutter seufzte und steckte den Kopf durch den Türspalt. „Was verstehst du nicht?“ Oliver starrte angestrengt auf seine Bettdecke. „Wie schafft es der Weihnachtsmann jedes Jahr, so viele Geschenke zu verteilen? Es gibt doch so viele Menschen auf der Welt. Und er hat so wenig Zeit…“ Seine Mutter schmunzelte. „Ach Oliver“, sagte sie. „Das ist das große Weihnachtsgeheimnis. Niemand weiß, wie dem Weihnachtsmann das gelingt. Aber jetzt ist es spät.“ Sie löschte das Licht und schloss die Tür.

Entschlossen setzte Oliver sich auf. Heute Nacht würde er das Geheimnis des Weihnachtsmannes lüften, beschloss er. Wie? Ganz einfach. Er würde ihn fragen. Zufrieden mit sich und seinem Plan kuschelte Oliver sich in seine Bettdecke und betrachtete die Leuchtsterne an seiner Zimmerdecke. Nicht mehr lange und seine Eltern würden ins Bett gehen. Er wartete. Die Zeit verstrich und er wurde merklich ungeduldiger.

Da. Die Haustür hatte geknarrt. Sein Herz schlug schneller. War das schon der Weihnachtsmann? So leise wie nur möglich stand Oliver auf. Er tappte zu seiner Zimmertür und spähte durch das Schlüsselloch. Das Treppenhaus wurde durch ein schwaches, flackerndes Licht erhellt. Vorsichtig drückte er die Türklinke herunter und verließ das Zimmer. Auf dem Beistelltisch im Flur stand der Adventskranz. Alle vier Kerzen brannten. Hatten seine Eltern sie vor dem Schlafengehen nicht gelöscht? Vielleicht, so schoss es ihm durch den Kopf, hatte der Weihnachtsmann sie angezündet. Aufgeregt lief Oliver die letzten Meter bis zur Wohnzimmertür. Diese war einen Spalt breit geöffnet. „Ist da jemand?“, flüsterte er.

Aus dem Wohnzimmer ertönte eine tiefes, brummiges Lachen. „Guten Abend, mein Junge.“ Das musste der Weihnachtsmann sein! Oliver hielt den Atem an. Auf einmal leuchtete ein Licht auf. Er blinzelte und drückte die Tür weiter auf. Inmitten des Wohnzimmers stand der Weihnachtsmann. Er war größer, als Oliver es sich vorgestellt hatte. Und breiter. Neben ihm auf dem Boden stand ein gefüllter Sack. In der einen Hand hielt er eine Laterne, in der anderen ein Plätzchen. „Lecker!“, sagte der Weihnachtsmann und ließ das Plätzchen in seinem vom Bart versteckten Mund verschwinden. Wie angewurzelt blieb Oliver stehen. Damit hatte er nicht gerechnet.

„Solltest du um diese Zeit nicht in deinem Bett liegen und schlafen?“, fragte der Weihnachtsmann und schmunzelte. „J-ja,“ stotterte Oliver. Doch dann besann er sich eines Besseren. Schließlich war er nicht ohne Grund hier. Er wollte doch das Weihnachtsgeheimnis lüften. Also drückte er selbstbewusst den Rücken durch und fragte: „Wie machst du das eigentlich?“
Der Weihnachtsmann schien unbeeindruckt zu sein. „Was?“, brummte er. „Das alles…“ Oliver zeigte auf den Sack mit Geschenken. „Du hast doch nur einen einzigen Abend Zeit. Ich habe ausgerechnet, dass es selbst mit der schnellsten und besten Maschine nicht möglich ist, allen Menschen in so kurzer Zeit Weihnachtsgeschenke zu bringen. Wie also machst du das?“

Der Weihnachtsmann lachte. „Du bist ein kluger Junge. Eigentlich ist das nicht möglich. Doch es gibt da etwas, das nennt sich Relativität. Die meisten Menschen verstehen nichts davon. Das ist schade. Aber so kann ich mir die Relativität zunutze machen. Vor langer Zeit baute ich mir einen Superschlitten. Am hinteren Teil ist ein Propeller befestigt. Dadurch kann ich mit dem Schlitten fliegen. Ich kann die Frequenz der Propellerdrehungen so erhöhen, dass der Schlitten so schnell fliegt, dass sich die Zeit verlangsamt. Das nennt man Zeitdilatation. Natürlich verlangsamt sie sich nicht für alle. Zeit ist relativ. Das bedeutet, dass sie für mich ganz normal weiterläuft. Aber verglichen mit der Zeit, wie sie für euch ist, läuft sie langsamer. So kann ich jedem Kind auf der Welt ein Geschenk bringen. Meistens bleibt mir sogar noch Zeit und ich kann hier und dort etwas länger bleiben und zum Beispiel neugierigen Jungen Fragen beantworten…“ Die Augen des Weihnachtsmannes funkelten belustigt.

Olivers Gedanken schlugen Purzelbäume. „Das verstehe ich nicht.“ Enttäuscht blickte er den Weihnachtsmann an. „Das kannst du auch gar nicht.“, sagte dieser. „Noch nicht.“ Dann bückte er sich. „Für dich“, sagte der Weihnachtsmann lächelnd, „habe ich etwas ganz Besonderes mitgebracht…“ Er griff in den bis oben hin gefüllten Sack und reichte Oliver ein rechteckiges Päckchen. Dieser nahm es mit großen Augen entgegen und ließ sich in den Sessel seines Vaters plumpsen. Voller Spannung öffnete Oliver das Geschenk. Er hielt ein Buch in den Händen. Es sah sehr schlicht aus und trug den Titel „Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie“. Verwundert schlug Oliver den Buchdeckel auf. Ein Zettel fiel heraus und landete auf dem Boden. Oliver hob ihn auf:

„Ich habe mir sagen lassen, Du bist ein neugieriger und aufgeweckter Junge. Kein Geheimnis scheint vor Deinem Verstand sicher zu sein. Auch nicht das Weihnachtsgeheimnis. Also dachte ich mir: Wer könnte Dir besser die Welt erklären, als der Meister höchstpersönlich? Dieses Buch stammt von Albert Einstein, einem der ganz großen Denker. Nach der Lektüre wirst Du mein Geheimnis sicher ein wenig besser verstehen. Mein Tipp: Schaue Dir doch einmal das Kapitel „Zeitdilatation und relativistische Massenzunahme“ genauer an. Doch eins lass Dir gesagt sein: Nicht alles, was in der Welt geschieht, lässt sich vollständig in Buchstaben und Zahlen ausdrücken. Auch nicht das Weihnachtsgeheimnis. Ich wünsche Dir viel Freude beim Lesen.

Dein Weihnachtsmann“

„Vielen Dank lieber Weihnachtsmann!“, murmelte Oliver und lächelte. Es kam keine Antwort. Er runzelte die Stirn und blickte auf. Das Wohnzimmer war leer.

Hinterlasse eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.