2020. An den Balkonen hängen mehrere Regenbogenflaggen. Pärchen verschiedenster sexueller Orientierungen spazieren auf dem Campus umher. Gemeinsame CSD-Besuche werden geplant. Sexualität und Gender sind Themen, die größtenteils offen angesprochen werden können. Wir sind zwar nicht Schule der Vielfalt, aber wir sind eine vielfältige Schule, auch in farbenfroher Hinsicht.

2010. Sexualität und Gender? Als Thema Fehlanzeige. Tatsächlich geoutete Schüler:innen, sei es nun im Bezug auf die Liebe oder die Identität, gibt es quasi nicht, geschweige denn Pärchen. „Rein statistisch muss es ja welche geben“, sagt die Internatsleitung in einem Interview – aber bis auf persönliche Vermutungen gibt es keine bekannten „Fälle“. Das gleiche Interview darf „nur in geglätteter Form“ veröffentlicht werden.

2020. Doch neben all den farbenfrohen Signalen gibt es auch andere. Von einigen Eltern kommen immer wieder skeptische und gar ablehnende Reaktionen auf die Offenheit der Schüler:innenschaft gegenüber LGBT*Q-Themen. In Elterngesprächen werden mehrfach sexuelle Orientierung und ein negativer Einfluss auf das Umfeld in Relation gesetzt. Wir sind zwar eine vielfältige Schule, aber komplett offen? Sind wir noch nicht.

Seit 2010 hat sich einiges verändert am LGH, vor allem in der Schüler:innenschaft. Trotz einzelner ablehnender Meinungen gibt es keine ablehnende Haltung gegenüber queeren Menschen, und aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Es lebt sich im Großen und Ganzen ganz angenehm am LGH – aber eben nur im Großen und Ganzen. Sexualität und Gender ist zwar ein Thema, über das unter Schüler:innen offen gesprochen wird, in beispielsweise der SMV-Arbeit ist es aber mittlerweile ein Sujet, das ähnlich verhärtete Fronten hervorruft wie die Frage nach dem Sex im Internat oder Alkoholregelungen.

Dabei wäre es gerade in diesem Kontext äußerst relevant, das Thema auch einmal von schulischer Seite aus zu thematisieren. An vielen Schulen gibt es Workshops und Aufklärungsprogramme verschiedenster Institutionen, die sowohl sexuelle Aufklärung im Allgemeinen, als auch insbesondere Sexualität thematisieren – in 90 Minuten bringen eigens dafür ausgebildete Experten rüber, was wissenschaftlicher Konsens ist und wie Toleranz gelebt werden kann, teilweise an eigenen Beispielen.

Denn egal, wie offen mittlerweile das Internet ist – eine gewisse Diskrepanz zwischen der offen lesbischen Youtuberin oder der genderqueeren TikTok-Person und dem realen Umfeld bleibt bestehen (und ist vermutlich auch wünschenswert): Vor allem, weil man in jene offenen Sphären des Internets oft nur gelangt, wenn explizit danach gesucht wird. Dass man selbst als questioning-Person, also als eine Person, die sich der eigenen Sexualität beziehungsweise des eigenen Genders unsicher ist, dort Akzeptanz findet und Bildungsangebote wahrnimmt, heißt nicht, dass das die Klassenkamerad:innen ebenfalls tun. Diese selektive Vermittlung von Toleranz verursacht also keineswegs eine allgemeine Offenheit, sondern bleibt Angebot – das jede:r einzige selbst wahrnehmen muss, damit es gelebt wird.

Zusätzlich zu dieser Personenabhängigkeit findet durch eine solche Onlinebildung auch lediglich eine themenspezifische Bildung statt, sowohl, weil auch dort nur nach selektiven Themen gesucht wird, als auch, weil es schlichtweg zu manchen Themen selbst im Internet wenig gibt – Stichwort Intersexualität oder auch Nicht-Binarität. Um zu gewährleisten, dass eine Generation also eine gemeinsame Grundbildung in dieser Hinsicht besitzt, reicht Online-Repräsentation also noch lange nicht aus.

Aber wir haben doch den Biologie-Unterricht, in dem über Sexualität gesprochen wird? Zuallererst muss hierbei gesagt werden: Wie genau und wie tief Sexualität im Unterricht behandelt wird, ist sehr stark abhängig von Lehrer:in und Schule. Aus persönlicher Erfahrung kann zumindest ich sagen, dass ich im Unterricht höchstens einmal gelernt habe, dass es Menschen gibt, die sich nicht zum anderen Geschlecht hingezogen fühlen – mehr aber dann auch nicht. Selbstverständlich lassen sich persönliche Erfahrungen nie pauschal verallgemeinern, aber diverse Studien zeigen, dass das, was im Biologieunterricht – und auch in anderen Fächern – real gelehrt wird, bei Weitem nicht die Akzeptanz in der Gesellschaft zur Folge hat, die wünschenswert wäre und die im Grundgesetz festgeschrieben ist. Ein Großteil der LGBT*Q-Community kann seine Sexualität oder sein Gender nicht frei ausleben, und mit frei sind in diesem Kontext zumeist Banalitäten gemeint, vom Outing bis hin zum Händchenhalten.

Die Lösung, wie so oft: Bildung in der Schule. Und das umfassend. Am LGH diesbezüglich, wie an vielen anderen Schulen auch? Fehlanzeige. Gerade an Schulen, die mit einem Internat verbunden sind, also einen wichtigen Lebensraum der Schüler:innen darstellen, und vielleicht auch gerade an Schulen, die sich immer noch als Verantwortungselite bezeichnen, wäre eine umfassende Bildung diesbezüglich allerdings ein Muss, auch wenn sich in den letzten zehn Jahren vieles geändert haben mag.

Und auch wenn der Großteil der Bevölkerung kein Problem mit einem heteronormativen-cis-Weltbild haben mag, da statistisch lediglich fünf bis zehn Prozent der Menschen persönlich von genannten Themen betroffen sind: In einer Schulklasse sind das im Durchschnitt zwischen einer und drei Personen. Dazu kommen Grundprinzipien der Demokratie – die Achtung für „Minderheiten“, aber vor allem auch das gesamtgesellschaftliche Leben von Toleranz.

Vielleicht mag es übrigens auch die ein oder andere Person gestört haben, dass ich in diesem Artikel so oft Anglizismen verwende – das liegt vor allem daran, dass der Großteil meiner persönlichen Bildung zu diesem Thema aus dem World Wide Web stammt, und das von englischsprachigen Seiten und Personen, weil ich das, was ich gelernt habe, eben nicht im Schulunterricht oder anderswo im nicht-virtuellen Bereich gelernt habe.

Sommer, irgendwann später. Die Epidemie ist vorbei. Jetzt laufen tatsächlich Pärchen händchenhaltend über den Campus, Pärchen verschiedenster sexueller Orientierungen. Für das Outing reicht der Satz „Ich stehe übrigens auf xy“. Ein CSD ist nicht mehr Demonstration, sondern lediglich Fest der Offenheit. Blutspenden sind sexualitätsunabhängig, ein Pärchen kann unabhängig von der sexuellen Orientierung ein Kind adoptieren. „Schwul“ ist kein Schimpfwort mehr. Jede:r ist einfach, wie er:sie ist. Natürlich braucht es für diese Zukunftsvorstellung vor allem gesamtgesellschaftliche Veränderung. Aber die fängt oftmals mit Bildung an – warum fangen wir also nicht mit Bildung an?

Ein Kommentar

Hinterlasse eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.