„So sehen Abiturienten aus!“ – gleich 36 Köpfe wollen sich intuitiv umdrehen, um irgendwo in den Reihen leerer Stühle hinter sich diese „Abiturienten“ zu erspähen. Man selbst jedenfalls fühlt sich kaum bereit, jetzt wirklich die Rolle der inzwischen zum Teil schmerzlich (wenn auch am Oberstufentisch eher selten) vermissten Alumni einzunehmen. Wie sehen sie denn aus, diese Abiturienten?

Stufe 1: Frisch-Kurswählende 11. Klässler

Endlich geschafft – befreit von den Ketten der Mittelstufe liegt es in der eigenen Hand, sein Schicksal zu bestimmen! Weiterhin belastet von Geo, GK oder Sport, aber befreit von Leiden wie Französisch, Physik oder Latein, begibt man sich voller Hoffnungen in diese Oberstufe, die schon jetzt schmeckt wie Freiheit: Da werden selbst als unglücklich wahrgenommene Kurszuteilungen toleriert, Grundkurse ohne die besten Freunde akzeptiert, die letzten drei anstehenden GFS nahezu mit Eifer geplant.

Denn eines ist sicher: Als Oberstüfler ist man geradezu neu geboren! Vom Oberstufentisch scheint man die Mensa zu beherrschen, dann können auch die missbilligenden Blicke der 12. Klässler einen nicht mehr davon abhalten, sich auf triumphale Weise gereift zu begreifen – diese letzten Jahre sollen nun also die besten werden, die je am LGH erlebt wurden!

Stufe 2: Abitur is coming

Mit bitter-ernster Miene schreitet eine gebeugte Gestalt an den Rand der Menge – steigt hervor aus einem nun erstarrenden Publikum, welches mit angst-erfüllten Augen den Worten lauscht, zu denen sich eine klare, drängende Stimme erhebt: „Abitur is coming.“

Das jedenfalls wäre noch immer spannender, als sich Kurs um Kurs anzuhören, es ginge nun ja auf das Abitur zu – nein! Doch! Ohhh! Kein Lehrer lässt es sich entgehen, diesem nun zum Teil exklusiven Kurs vor sich noch einmal gehörig zu demonstrieren, dies sei nun definitiv das wichtigste Fach, man solle gut aufpassen, und am besten direkt ein bis vier Stark-Hefte bestellen. Es folgt dementsprechend die erste Welle der Panik, begleitet von einer dazu proportionalen Welle Amazon-Pakete.

Stufe 3: Wenn nicht jetzt, wann dann?

Der erste Schrecken der Oberstufe ist abgeflaut – und wurde prompt ersetzt durch ein Gefühl überbrandender Euphorie. Man ist jung, man ist motiviert, die Noten haben sich nach anfänglichen Tiefschlägen wieder eingependelt, und einmalig am LGH scheint man nun ein wenig Einfluss und Erfahrung sowie Zeit zu besitzen! Ein höchst instabiler Zustand, der explosiv unter Bildung zahlreicher Nebenprojekte, Orchideenfächer, Addita und der ein oder anderen Nachtaktion abreagiert.

Als 11. Klässler scheint man nun plötzlich durch die Semester zu sprinten. Der Gegenwind umspielt erfrischend die Stirn, schillernd und berauschend zieht der kunterbunte Wirrwarr des LGH an einem vorbei – und antithetisch schleichend bahnt sich die Gewissheit einen Weg, dass es in diesem Tempo nicht ewig weitergehen kann…

Stufe 4: Oberstufe: Halb leer oder halb voll?

Abrupt im Lauf gestoppt haben einen die Sommerferien, und so ist man aus seinem Dauerlauf nun eher getaumelt, direkt in eine kleine existenzielle Krise hinein. Erste bange Listen werden erstellt: Wie viele WG-Abende, wie viele A-Wochenenden, wie viele Schulabende? Zwei Entwicklungen laufen parallel und rasend schnell:

Erstens wird die bereits verbrachte Zeit am LGH rasant glorifiziert: Anstrengende Zimmerpartner werden einmalige Wegbegleiter, die oftmals eher verpflichteten Vortragsabende zu Quellen der Bildung (Viel kann hier humoristisch aufgewertet werde, das schlafbedingte Schwärzen besonders langweiliger Ereignisse erledigt das Übrige), selbst der WG-Putz erscheint als rettender Pfeiler der Ordnung in einer sonst so ungewissen Zeit.

Zweitens wird die noch verbleibende Zeit im Kontrast gleich doppelt malträtiert: Gefürchtet aufgrund des Schwarzen Lochs hinter „Abitur“, zugleich heillos überfordert durch die klamme Hoffnung, dieses letzte bisschen LGH zu genießen, so weit das angesichts von Schritt 1 möglich ist.

Stufe 5: Vorabiturielle Phase

Bittere Abschiedsgefühle werden glücklicherweise rasch überlagert, schließlich gibt es ein Gefühl mit höherer Priorität: Stress. Glaubte man vor wenigen Wochen noch, das Vorabitur sei doch schlussendlich auch nur eine Klausur, hatten die steten Ermahnungen der Lehrer zu Abitur-Vorbereitungsstunden aufgrund ihres Andauerns seit Beginn der 11 ihren Schrecken verloren, so kann nun beidseitig die Panik über einem zusammenbrechen.

Weitere Wellen von Lektüreschlüsseln und Stark-Heften branden an den Türen des Sekretariats. Archiv- um Archivordner wird sorgfältig entstaubt. Verlachte Arbeitsblätter werden hoffnungsvoll entziffert. Insgesamt gut 100 Seiten Zusammenfassungen werden mal von Hand, mal am Laptop getippt. Selbst LGHler allerdings benötigen alle paar Turni etwas Schlaf – so flaut der allumfassende Sturm der Vorabiture nach dem ersten bereits deutlich ab. Schlussendlich? Doch nur eine Klausur…

Stufe 6: Das ist keine Übung!

Das allerdings ist es nicht: Erste Abitur-Prüfungen stehen an! Egal, ob fachpraktische oder Kommunikationsprüfung, mit den ersten „Ruhe bitte – Abitur“-Schildern ist eben diese bei den Prüflingen endgültig verloren. Schlagartig packt jeden einzelnen die Erkenntnis, dass das nun wirklich, tatsächlich in das Abi zählt.

Selten sah man eine schönere Demonstration der Irrationalität unserer Ängste, schließlich machen die Klausuren der letzten Jahre, die man zumeist mit einer ausgeprägten „Wird schon“-Attitüde und zum Teil einigen Rest-Promille hinter sich gebracht hat, ganze 2/3 dieser nun gefürchteten Abitur-Note aus. Aber schlussendlich hat auch diese Überreaktion kaum ernstliche Folgen, lässt sich in den letzten zwei Tagen nun eben auch nichts mehr retten – und erweisen sich diese ersten Abitur-Prüfungen zudem überraschender Weise als weniger tödlich als vermutet.

Stufe 7: “Ich hab‘ doch das Vorabi gepackt!“

Bestandene Prüfungen allerdings sind selten eine stabile Basis für fundierte Klausurvorbereitung – und so sind die ersten letzten Wochen vor Stunde 0 von erstaunlicher Tiefen-Entspannung geprägt. Hat man sich noch vor eben jenem Vorabitur bitterlich dafür verwünscht, nicht wenigstens eine Woche zuvor mit der Vorbereitung begonnen zu haben, scheint es jetzt, als müssten ein paar Tage davor doch locker reichen, um mal eben den Stoff zu wiederholen.

Einige können zudem beginnen, abzuschätzen, ob sie nach geleisteter fachpraktischer Prüfung überhaupt noch soooo schlecht werden können, was müsste man denn schreiben, um gerade noch nicht zu unterpunkten…

Stufe 8: The Game Is On

Und dann – dann sitzt man in der Aula, in seiner bequemsten Jogginghose, vor sich auf dem Tisch ein kleiner Berg an Snacks und Getränken sowie Schokoladen-Täfelchen mit aufmunternden Sprüchen (Eine kleine Aufmerksamkeit der Lehrer, die sich über die Prüfungen hinweg scheinbar so zielsicher in einen Wettstreit manövrieren, dass sich zunächst die Quantität, dann die Qualität bis hin zu selbstgebackenen Scones steigert), und das dumme kleine Herz, dass die letzten Tage in einer Schwebe der Sorglosigkeit verbracht hat, schlägt einem bis zum Hals.

Prüfungen werden ausgeteilt, die Vollständigkeit dieser überprüft, und während man sich bereits in halber Panik fragt, ob da auch sicher kein einziges Blatt fehlt, kommt man nicht umhin, sich mental für die letzten drei Wii-spielend und Plakate-malend verbrachten Tage verdammen zu wollen. Den Blick auf das kleine mit einer Ziffer versehene Namensschild geheftet, kann man sich schnell mal fragen, ob man eigentlich ein paar Jahre im Koma verbracht hat, wo man seine als selbstverständlich angesehene Schülerchiffre definitiv nicht weiß, geschweige denn je davon gehört hätte (Tipp an alle 11er: Ja, die steht da wirklich. Ja, das ist die.).

Diese Mixtur aus Verwirrung, Panik und Wortfindungsstörungen bleibt noch eine Zeit bestehen – bis man gegen 11 Uhr abrupt wieder nüchtern wird. Ein Moment der wahrhaftigen Ambiguität (klingt auf Deutsch auch nicht besser…): Es ist schlicht eine Klausur, man hat doch noch erstaunlich viel Zeit, und in 3 h ist man aus diesem Raum raus und hat alles hinter sich und – was hat man eigentlich die letzten Stunden vor sich hin getextet?! Tja, neu anfangen kann man jetzt auch nicht mehr…

Stufe 9: Post-Abiturielle Phase

„Ach, ihr seid ja sogar gekommen, das freut mich!“ Das überrascht die Lehrer zum Teil ähnlich wie die Schüler, welche schlicht feststellen mussten, dass sie sonst eigentlich auch nichts zu tun haben, außer Short Stories zu lesen und mit dem Physik-Kurs den minimalen Reibungskoeffizienten beim Rutschen experimentell zu ermitteln. Selbstverständlich nicht jeden – einigen musste beim Blick auf das noch leere GFS-Rückmeldeblatt schon seit langem klar gewesen sein, dass noch einiges selbstgestalteter Unterrichtszeit vor ihnen lag.

So verbringen Schüler und Lehrer die letzten gemeinsamen Wochen in einer ganz erstaunlichen Form der Symbiose, in der beidseitig periodisch daran erinnert wird, dass man ja potentiell noch Nachprüfungen zu absolvieren hat – in einem stetigen Wechsel werden folglich letzte Lektüren gelesen und Jeopardy gespielt.

Stufe 10: Wie bewerbe ich mich für ein FSJ?

In der Leicht- und Frohsinnigkeit dieser letzten Wochen spüren nun allerdings alle einen kalten Hauch im Nacken. In diesen letzten Tagen, in denen sich bestehende Vertrautheit noch vertieft, gemeinsame Serien-Vorlieben dank Montags-Maler mit nahezu jedem entdeckt werden und der Campus im frühen Juni in wohlige Wärme getaucht ist, in diesen magischen letzten Tagen also, da wird einem klar, es sind die letzten. So viel, das man hat – so viel, das man verlieren kann.

Es ist eine andere Sorge als in den Sommerferien, eine ruhigere, akzeptierende – durchbrochen nur durch wiederkehrende kurze Anfälle der Versuchung, man könne doch eigentlich ein freiwilliges soziales Jahr am LGH absolvieren. Doch schlussendlich ist allen klar, dass diese Tage nicht länger zum Auskosten sind, sondern zum Verabschieden.

Stufe 11: Sinuskurve der Sorge

Zu sentimental, zu pathetisch? Keine Sorge, wir haben auch noch ganz praktische, greifbare Gründe zur Panik! Die Ergebnisse der Prüfungen zum Beispiel, die man gesammelt mit dem Zeugnis 12/2 sowie, weil‘s so schön ist, den Themen der mündlichen Prüfung, in einem besorgniserregenden Gespräch mit Frau Weber und Herrn Fischer erhält. Eine geraume Zeit hat die schillernde Seifenblase der post-abituriellen Phase angehalten, jetzt kommen einem schlagartig jene prophetischen Worte ins Gedächtnis, die dereinst Herr Häcker nach einer Runde „Abi? Tur!“ verlauten ließ: „Noch habt ihr’s nicht!“

Und so schwankt der fast vollendete Abiturient in diesen letzten Stunden beständig zwischen einem Gefühl der vollkommenen Gleichgültigkeit angesichts der bereits bekannten 2/3 der Note – und allumfassender Panik angesichts des ungewissen letzten Drittels, das noch auf ihn zu kommt.

Stufe 12: Und jetzt?

Irgendwo zwischen diesem Zuhause, in das man zurückkehrt, und jenem Zuhause, dass man verlässt, umspült von der Ebbe und Flut der variierend begründeten Panik, irgendwo da findet er sich vielleicht tatsächlich, der Abiturient.

Der seinen Frieden damit gemacht hat, dieses behütete Kapitel seines Lebens samt ständigem DB-Pendeln und der Campus-Katze hinter sich zu lassen.

Der, nachdem er das irgendwann in der Mittelstufe bereits schon einmal hinter sich bringen musste, erneut bereit ist, in dem Chaos des Neuen frische soziale Kontakte zu knüpfen, ein paar weitere Male zu rätseln, wann und wieviel Weirdness in Small Talk eineflochten werden kann, neue Gemeinden des Essens-Kommunismus, mal mehr, mal weniger freiwillig, zu bilden.

Der nicht nur seine eben absolvierte Prüfung, sondern das Wissen um die folgenden, mit Sicherheit weitaus umfassenderen Prüfungen annehmen kann.

Der Abiturient, der das LGH geliebt hat – so weit liebt, dass die Dankbarkeit, all das erlebt und empfunden zu haben, Abschiedsschmerzen überdeckt.

Ich für meinen Teil bin dieser Abiturient sicher noch nicht. Ich sitze, wie so oft in meiner noch kurzen Lebenszeit, in der Deutschen Bahn, und versuche, nicht auszurasten. Aber eines Tages wird man dieser Abiturient sein – schließlich gilt für so viele von uns, dass wir keine Angst davor haben zu fühlen, weder Freude noch Trauer, sondern davor, nichts zu fühlen, irgendwo vergraben in Langeweile und Distanzierung.

Also tuen wir das: Fühlen wir all die Sorge, den Schmerz, die Panik, in dem Wissen, dass sie nur dank tausender guter Stunden ein solches Gewicht haben. Und wer dann noch immer kein in sich ruhender Abiturient ist? Der übt das eben am Alumni-Tag…

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