Ein „Fleckchen Erde“ im Meer, 6 Quadratkilometer groß. Wie hat es mich hier her verschlagen?

Wenn man manchmal zurücksieht, kann man sich zu oft nicht mehr erinnern, wie man es geschafft hat, manche Entscheidungen zu treffen.

Wie etwa die eine Entscheidung, die vielen von uns inzwischen allzu mysteriös erscheint: Wie ist man überhaupt ans LGH gekommen, ohne jemanden zu kennen oder zu wissen, was auf einen zukommen würde?

Die Antwort fällt uns erst wieder ein, wenn wir diesen Moment einer Entscheidung wieder erleben – der Moment, in dem wir für Aufregung und Faszination alle Sorgen zur Seite stellen.

Ich erinnere mich, wie ich mit einer Freundin vor dem Laptop saß und wir uns nach meiner Zukunft umsahen, statt für Chemie zu lernen.

Man kann statt direkt zu studieren, zu arbeiten oder einer Ausbildung, ein Jahr „Bildungspause“ machen und sich anderweitig für etwas einsetzen, das einem am Herzen liegt. Die meisten kennen die Einrichtung des FSJ – Ein Jahr sozialer Freiwilligendienst, im Kindergarten, zum Beispiel. Tatsächlich gibt es auch ein FKJ, das Freiwillige Kulturelle Jahr, in dem geschichtlich Interessierte unter anderem auch Denkmalpflege betreiben können.

Was meinen Interessen entspricht und wesentlich unbekannter ist, ist das FÖJ: Das Freiwillige Ökologische Jahr. Innerhalb dessen kann man sich für den Umweltschutz in verschiedenen Bereichen einsetzen. Es gibt Möglichkeiten, in denen man Umweltbildung betreiben kann, im Verwaltungsbereich einer entsprechenden Firma arbeiten, bei Bauernhöfen und Betrieben aushelfen, direkte Arbeit am Naturschutz leisten…

Der erste Blick ins Meer am Fähranleger Schlüttsiel

Die Angebote und Stellen sind in ihrer Unterschiedlichkeit sehr weit gefächert. Genauso in ihren Umfeldern – verschiedene Biosphärenreservate (Das nächste Biosphärenreservat am LGH ist übrigens das der Schwäbischen Alb), Städte, usw.

Mir fiel der „Nationalpark Schleswig-Holsteinische Wattenmeer“ im Kreis Nordfriesland ins Auge. Besonders die beiden Halligen (Inseln ohne Geestkerne, wie ich jetzt weiß) Langeneß und Hooge. Tatsächlich bin ich noch nie auch nur in der Nähe deren gewesen, aber plötzlich ist man fasziniert und der Gedanke lässt nicht mehr los. Denn der Nationalpark an sich ist besonders für die „Exil-Bayern“ (Ein sehr friesischer Ausdruck für Baden-Württemberger) eine andere Welt. Nicht nur, dass die Halligen in sich eine völlig andere Lebensart wiederspiegeln – Der Nationalpark ist ein extrem wichtiges Naturgut, das im Angesicht der politischen Lage, des gesamten gesellschaftlichen Mindsets um den Umweltschutz herum, geschützt, beschützt werden muss. Etwas, das ich so noch nie vorher gesehen habe, und nicht zum letzten Mal gesehen haben kann – denn dieser wunderschöne Ort weckt Sehnsucht.

Blick auf eine „Warft“ auf Hooge, eine erhöhte Stelle zum Schutz vor Überschwemmung

Die beiden Halligen sind weniger als 6 bzw. 12 Quadratkilometer groß mit jeweils ungefähr 100 Einwohnern. Statt Bebauung gibt es Platz für große Flächen, die zu Brut- und Zwischenlandungsstätten für tausende Vögel werden.

Diese charakterisieren die beiden Halligen und sind mit einem Großteil der Arbeit in einem FÖJ bei den Schutzstationen auf jenen verbunden: Es werden ornithologische Führungen angeboten, Vögel gezählt, bestimmt, analysiert, um den Bestand aller Vogelarten auf Störungen und Ähnliches zu untersuchen. Zugegebenermaßen, bisher konnte auch ich nur etwa Spatz, Amsel, Dohle, Spatz und natürlich die LGH-Stockente in meinem ornithologischen Repertoire verzeichnen – doch die große Vielfalt und die ständige Anwesenheit der Vögel wecken bisher unbekanntes Interesse. Kaum ist ein Tag vergangen, kennt man und freut sich an Ringelgänsen, Austernfischern, Löfflern, Silbermöwen und sogar einem extrem niedlichen Teichhuhn.

Zum Arbeitsfeld  gehören noch weit mehr Angebote, welche vor allem Umweltbildung fokussieren, denn besonders Hooge lebt vom Tourismus. Dies gibt die Möglichkeit, viele Menschen von der Natur zu faszinieren und zu begeistern – was (meiner Empfindung nach) im Umfeld der Halligen nicht schwer ist.

Abend auf Langeneß, die nächste Warft (bzw. „Warf“, Langeneß-spezifisch) Kilometer entfernt

Sobald der Funke gezündet hat, ist die Bewerbung schnell geschrieben (auch statt einer Chemie-Zusammenfassung). Das war im Januar. Eine Rückmeldung, ob man zum Bewerbungsgespräch und Kennenlernen beiderseits bei seinen Wunschstellen eingeladen wird, bekommt man mitte März – eine lange Zeit, um viele ndr-Dokumentationen (welche anscheinend zuhauf über die Halligen gedreht werden) zu schauen, während man die Mails stündlich nach Antworten checkt. Letzteres lohnt sich erfahrungsgemäß nicht, man bekommt die Rückmeldung nämlich per Post. Ups.

Tatsächlich trat der Glücksfall, beide erstgewünschten Halligen für jeweils zwei bis drei Tage besuchen zu dürfen, ein. Durchtelefoniert, Termine gemacht, Zug gebucht – dass Hin- und Rückfahrt jeweils 14 Stunden dauern, rückt sehr klein in den Hintergrund. Oder dass ich noch nie ein Zugticket überhaupt gekauft habe. Oder überhaupt irgendetwas Ähnliches wie diese Reise erlebt habe.

Die 14 Stunden Zugfahrt sind unspektakulär, ausser dem ersten Besuch eines Landkinds in Hamburg. Je weiter es in den Norden geht, desto kälter wird es. Als man Abends endlich am letzten Punkt – der Fähre – angelangt ist, hat man

Sonnenuntergang auf Langeneß, soweit ihn eine Handykamera einfangen kann

bereits nahezu alle Kleidungsstücke an, die man mitgenommen hat, doch die Sicht in den Abendhimmel über der Nordsee entschuldigt das Zittern.

Von Zuhause hört man viele geteilte Meinungen über eine Stelle auf einer „einsamen Insel“. Doch hier handelt es sich, wie gesagt, weder um eine Insel, noch ist es einsam, und das, obwohl die Halligen gerade aus der Nebensaison erwachen. Die Führungen und Expeditionen, welchen die Bewerber beiwohnen dürfen, sind oft gut besucht, Kinder spielen Fangen auf der Warft. Die Teams der Schutzstationen wohnen zusammen in WGs, geschmückt von Angespültem und den familienalbumshaften Spuren aller Vorgänger der Stellen. Nach dem Kennenlernen all dieser Menschen und der anderen Bewerber, kann man ein ganz bekanntes LGH – Phänomen wiederentdecken: Zusammen mit besonderen Menschen wird selbst ein abgeschiedener Ort persönlich und eine vom Wind gepeitschte Hallig bei 2 Grad mit Regen, warm.

Auch ohne direkt warmem Wasser, eventuell sogar ohne Laden und nur mit wöchentlichen Lebensmittelbestellungen, ohne eine allzu verlässliche Verbindung zum Festland, täglich kilometerweitem Radfahren bei Gegenwind, ohne viel, dafür mit viel Verzicht. Schnell muss einmal umgeplant werden, wenn die Fähre anders als sonst fährt oder das Wetter nicht mitspielt. Viele sagen: „Für mich wäre das nichts.“

Nur große Weite, Hooge vom Wattenmeer aus

Aber in der kurzen Zeit, die ich bisher auf den Halligen verbringen durfte, konnte ich erleben, wie die Uhr anders tickt, Prioritäten werden geändert, all die von außen betrachteten „Verzicht“-Faktoren multiplizieren sich mit den zahllosen Eindrücken der faszinierenden Natur, Menschen und Kultur zu einem neuen, gewinnendem Lebensgefühl, das ich am Ende meiner Reise nur sehr, sehr schweren Herzens hinter mir lassen konnte – unabhängig davon, ob der Traum von einem ganzen Jahr im Norden in Erfüllung geht. Das Wappen Hooges zeigt einen Anker, fast schon ein Sinnbild für das gewisse Etwas, das einen nicht mehr los lässt.

Doch das Abitur muss erst noch geschrieben werden. Auch ein Fakt, den man über der Szenerie der Landschaft glatt vergisst und auch vergessen will, wenn man bedenkt, dass die Zusage oder Absage genau während der Abitursprüfungen eintreffen wird.

Aber wie man an den Ort gekommen ist, an dem man sich befindet, wird wieder klar in einem Moment wie diesem, in dem die Faszination die Sorge über Schwierigkeiten wie die Zug- der Fährfahrt (Wobei tatsächlich beide an bestimmten Stellen missglückten, auch unbekannte Situationen, mit denen man umzugehen gelernt hat), oder auf das LGH bezogen, der Sorge über das Kennenlernen von Schule und Menschen, überwiegt.

Dazu ist also nur ein wenig Mut zu Neuem nötig.

 

Der Anleger auf Hooge, retrospektiv

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