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Das jüdische Mädchen und das chinesische Hochzeitskleid

China2von Juliette Scheuing

1961, Ostberlin. Endlich hat Sonja den perfekten Stoff gefunden: der wundervolle türkisfarbene Brokat aus China. Darauf verziert sind feine, orangefarbene Tempel mit olivgrünen Bäumen. Sonja hat ein chinesisches Kleid gezeichnet, aus den Erinnerungen von Shanghai. Das Kleid muss perfekt sein, nicht nur weil es für ihre Hochzeit ist. Dennoch ist ihr ein Fehler passiert, das Kleid ist seitenverkehrt. Aber Sonja kann nichts dafür. Sie war noch ein kleines Kind, als sie solche Kleidungsstücke gesehen hat.

Die Knöpfe sollen an der rechten Seite sein. Das Kleid ist ursprünglich ein Mantel, der eine Öffnung hatte, diese kann man zuknöpfen. Früher, in der Mandschurei (Nordchina), als Frauen noch ritten und mit Säbeln kämpften, hatten sie so etwas an. Da die meisten Rechtshänder waren, war auch die Öffnung rechts, damit man so schnell wie möglich den Säbel herausziehen konnte. Doch Sonja wurde viel später geboren, diese Geschichte kannte sie nicht.

Reise ins Unbekannte

Sonja Mühlberger, geborene Krips, ist 1939 in Shanghai zur Welt gekommen. Als Juden sind ihre Eltern aus Deutschland in das fremde Shanghai geflohen.

1938, im Standesamt Steinheim ist viel los, denn Hermann und Ilse Krips heiraten. Die Familie von Ilse ist einflussreich. Sogar der Bürgermeister gratuliert ihnen. Er ist Nationalsozialist.

Wenig später ist Hermann schon verhaftet und ins Konzentrationslager (KZ) nach Dachau gebracht worden, eingesperrt als sogenannter „Schutzhäftling“, wie nach dem Novemberpogrom 1938 in Deutschland Zehntausend andere jüdische Männer. Nur wer beweisen kann, dass er ausreist, hat eine Chance, freigelassen zu werden. Das junge Paar hatte schon einmal versucht, Hilfe aus dem Ausland zu bekommen, und ein Foto von sich nach London an Sir Richard Stafford Cripps geschickt. Krips und Cripps, sind wir vielleicht verwandt? Kann er uns helfen und nach England einladen? Wir sind anständige Menschen und brauchen Hilfe. Doch das Foto kam zurück mit der Antwort: ¨Sorry we can´t help¨.

Die anstrengende Suche nach einer Lösung lohnt sich. In der jüdischen Gemeinde erfährt Ilse Krips von anderen Frauen, dass die Stadt Shanghai noch jüdische Flüchtlinge aufnimmt. Ãœber einen Cousin, der in Amsterdam wohnt, besorgt Ilse Papiere vom dortigen chinesischen Konsulat für China. Hermann kommt somit aus dem KZ frei. Sie müssen aber fast ihren ganzen Besitz zurücklassen. Hermann Krips ist Kaufmann und betreibt ein kleines Geschäft. Doch nach Shanghai dürfen sie zusammen nur 20 Reichsmark und 2 Koffer mitnehmen, mehr nicht. Ilse hat jetzt einen weiten Mantel an – ja, sie ist schwanger.

Die Reise ist anstrengend. Von Frankfurt am Main mit dem Zug nach Italien, dann mit dem Schiff nach Shanghai. Voller Hoffnung am Hafen aussteigen, doch…

Die Straßen sind voll und eng, überall Straßenbahnen, Rikschas, Passanten, Schaulustige und Bettler. Es ist sehr laut, Reifen quietschen, Militärfahrzeuge hupen, japanische Soldaten marschieren und die Leute brüllen und kreischen. In China ist der Krieg ausgebrochen, Japan greift China an. Shanghai ist schon unter japanischer Besatzung, aber manche Stadtteile sind internationale Kolonien. So stürmen Flüchtlinge aus ganz China hier her. Es riecht muffig, ein Mix aus feuchter Meeresluft, Müllhaufen und Leichen, die auf der Straße liegen. Außerdem sieht man ganz genau verschiedene Arten von Ungeziefer herum flitzen, auf der Haut von Bettlern. Hermann weiß, was es bedeutet: ¨Tja, hier sehen die Marienkäfer eben anders aus¨, beruhigt er seine junge Frau.

3 Tage nach der Ankunft wollen Hermann und Ilse weiterreisen. Vielleicht Birobidshan, die künstlich geschaffene Siedlung von Stalin? Sie würden es noch schaffen, bevor das Kind zur Welt kommt. Doch dann ist der Krieg ausgebrochen. Sie müssen also für längere Zeit in Shanghai bleiben. Großes Glück für Familie Krips, denn die meisten Juden in Birobidshan werden später ermordet.

Eine ganz normale Kindheit

Erstmal gibt es noch ein anderes Problem. Das Kind wird bald geboren sein. Oktober 1939. auf ins Deutsche Generalkonsulat und das Kind anmelden! Es ist ein mächtiges Gebäude, davor Wachen in Uniform mit Hakenkreuz. Ein Mitarbeiter dort gibt Hermann eine Liste jüdischer Vornamen. Wählen Sie einen aus! Memelchen? Liebe? Ninchen? Blümchen? Hermann geht trotzig wieder raus. Sonja soll unser Kind heißen, so sportlich und tapfer wie Sonja Henney, die norwegische Eiskunstläuferin. In der Geburtsurkunde steht noch für 3 Monate der offizielle Name „Baby“, später erst „Sonja“, von der Shanghaier Behörde geändert und mit einem chinesischen Stempel versehen. Sonja ist stolz auf ihren Namen.

China1Sonja wächst in Shanghai auf, für sie ist es nicht ganz so schwer wie für ihre Eltern. Sie ist ein schlechter Esser, verspürt somit nicht den Hunger, den die Eltern oft erleiden müssen. Sonja geht auf die Shanghai Jewish Youth Association School, hat dort beste Noten. Doch schon immer wünscht sie sich ein Geschwisterchen.

Jeden Morgen steht Sonja auf dem Balkon, ihrem Lieblingsplatz, und schaut herunter. Jeden Morgen liegen Bündel an der Straßenecke. Ein Kuli, also ein einfacher Arbeiter, kommt. Er piekst mit seinem langen Stock auf so ein Bündel und wirft es hinter sich in einen Wagen. Plumps! Krawumms!

Was ist das, Mama?

Es sind Kinder, die niemand haben will, deren Eltern sie nicht ernähren können. Meistens Mädchen.

Kann ich eins davon mit nach Hause nehmen und als Schwester behalten?

Die Mutter sagt nie ja. Sie hat Angst, dass die Babys ansteckende Krankheiten haben. Es tut ihr sehr leid.

Jede Flüchtlingsfamilie, die kleine Kinder hat, hat auch eine Katze. Nicht nur als Haustier, sondern um Ratten zu fangen, damit sie nicht das Kind beißen. Familie Krips´ große weiße Katze macht ihren Job gut. Doch eines Morgens, als Sonja vom Balkon herunter schaut, sieht sie viele Chinesen. Sie zeigen nach oben und rufen etwas. Sonja versteht kein Chinesisch, sie geht auf eine englische Schule. Nach einer Weile merkt sie, dass die Menge unten die Katze meint. Diese liegt auf dem Balkon und ist tot, von Ratten tot gebissen. Sonja ist traurig. Aber immerhin haben wir die Katze begraben, ihr geht’s sicher besser als den armen chinesischen Babys auf der Straße, denkt sie.

Hier, für dich.

Nach ein paar Tagen gibt Ilse Sonja ein Korallenarmband zum Trost. Es ist ein wichtiges Andenken aus Deutschland. Familie Krips wohnt in einem winzigen Zimmer ohne Wasseranschluss und Sonja muss auf zwei Koffern schlafen mit einer Matratze oben drauf. Die Koffer sind die aus Deutschland. Neben ihnen wohnt ein grimmiger Mann, der Vermieter Herr Lidsky. Zwischen den beiden kleinen Räumen ist nur eine dünne zwei Meter hohe Holzwand als Trennung. Mangels Spielzeuge ist das Korallenarmband ein gutes Mittel gegen Langeweile. Hoch werfen, fangen, hoch werfen, fangen, hoch werfen, ups! Zack, über die Holztrennwand und weg war es im Raum von Herr Lidsky. Er behauptet, er hätte es nie gesehen, doch bestimmt hat er es verkauft.

Hier, für dich. Du kannst den Stoff als Futter für dein Hochzeitskleid benutzen.

Wie? Dein Hochzeitskleid?

Das Hochzeitskleid der Mutter ist wichtig für die Familie Krips, sie haben es mit in den Koffern nach Shanghai genommen und wieder zurückgebracht. Es ist eine Erinnerung an Deutschland, an die Eltern von Ilse, die Eltern von Hermann, die Bekannten… Nun hat Sonja in ihrem Hochzeitskleid auch das der Mutter.

Aber das ist doch so wertvoll, aus Seide…

Die Kinder sind unsere wertvollsten Schätze. Hermann lächelt.

Der Kaufmann, der Eier verkauft

Hinten auf dem Gepäckträger des Fahrrads beobachtet Sonja, wie ihr Vater mühelos steile, wackelige Wege hinauf fährt. Hermann verkauft Eier und muss diese hier beim chinesischen Großhändler abholen und prüfen. Er hatte es als deutscher und englischer Stenograph und Korrespondent versucht. Er hat Sunnybread gebacken, darauf eine Banderole mit dem Foto von Sonja. All das klappte nicht wirklich. Jetzt verkauft er Eier und hat somit den Shanghaier Dialekt gelernt und ebenso das Rechnen mit dem Abakus.

Angekommen, aussteigen, reingehen. Für Sonja ist es ein riesiger Raum, Hermann und der Chef reden, alle höflich und freundlich. Dann folgt Sonja ihrem Vater in einen fensterlosen Raum, wo nur eine einzige Glühbirne von der Decke herunter baumelt. Hermann steckt jeweils ein Ei zwischen zwei Finger und durchleuchtet sie gegen das schwache Licht zur Kontrolle. Vier Eier in eine Hand klemmen und kein einziges fällt runter, das kann nur Papa! Danach sortiert er Eier, die schlechten in einen Extrakorb. Hermann verkauft nur die besten Eier an seine Kunden. Den Dienstboteneingang und die Treppe auf und wieder ab, Korb leer, alle Eier verkauft. Sonja wird auch von ihm jeden Tag zur Schule gebracht und wieder abgeholt. Einmal kam ihr Vater zu spät…

Ich krieg‘ es hin, allein nach Hause zu laufen. Papa bringt mich so oft her, ich weiß es schon auswendig. Tapfer geht Sonja drauflos. Doch nach der ersten Kreuzung ist alles durcheinander. Wo lang soll ich jetzt gehen? Verzweifelt fängt sie an zu weinen. Eine Gruppe Chinesen hat sie sofort umzingelt. Manche sehen besorgt aus, andere lachen, doch Sonja versteht kein Chinesisch. Auf einmal tauchen Bettler auf. Lass dich nicht von Bettlern anfassen, hat sie von der Mutter gelernt, sie haben so viele Krankheiten! Doch die Bettler sehen, dass Sonja Haare auf den Armen hat, und zupfen neugierig daran.

Der indische Verkehrpolizist, ein Sikh mit einem Turban auf dem Kopf, ist ihre Rettung, er versteht Englisch.

What´s the matter, girl?

I´m lost, I don´t know how to get home.

Where do you live?

I´m not sure,I think in Hongkou, Washing Road / corner of Ward Road.

Take this tram.

In der Straßenbahn sieht Sonja, wie unbekannte Straßen vorbeiziehen. Überall Bettler, manchmal sieht sie auch Leichen, einfach so auf der Straße. Die Menschen gehen dran vorbei, ohne sie anzuschauen, so etwas ist ja nicht selten.

Da! Der Knopf! Die schöne Frau, die auch in der Straßenbahn sitzt, trägt ein rotes, chinesisches Kleid. Darauf sind wundervolle Knöpfe, wie kleine Knospen. So welche will ich unbedingt haben!

Das ist aber kompliziert! Keine Ahnung, wie ich die hinkriegen soll! Die Schneiderin seufzt.

Aber ohne die Knöpfe, ist es kein chinesisches Kleid!

Hmm… Vielleicht…vielleicht haben die in Westberlin andere Modehefte. Da muss ich allerdings über die Grenze fahren.

Ja, bitte! Das ist mir wichtig, da es doch mein Hochzeitkleid ist. Sonja bedankt sich. Sie ist heute froh, dass es damals noch keine Mauer gab. Sie sagt immer, sie hätte doch so ein Glück im Leben!

Die Schneiderin hat es geschafft, übte sogar über Nacht diese speziellen Knöpfe anzufertigen. Jeder einzelne Knopf wurde aus dünnen Stoffstreifen zu einer Kugel zusammengenäht. Das ist die traditionelle Methode aus China. Wunderschön!

Zurück in die noch unbekannte Heimat

1947, der Krieg ist seit August 1945 endlich vorbei. Die jüdischen Flüchtlinge versuchen, China zu verlassen, die meisten wollen nach Amerika oder Australien.

Wir gehen zurück in unsere Heimat, Sonja.

Nach Deutschland? Schön!

Mutter hat ihr schon viel von Deutschland erzählt. Sie hat auch ein Märchenbuch, woraus sie immer vorliest. Für Sonja ist Deutschland ein Märchenland.

Mama, was ist denn ein Wald?

Stell dir vor, du findest einen Baum. Und dann noch einen Baum, und noch einen, noch einen. Ganz, ganz viele Bäume zusammen, das ist ein Wald.

Wow!

Wir fahren nach Deutschland, hört ihr, wir gehen zurück in unsere Heimat!

Sonja erzählt es allen, die sie kennt. Die meisten jüdischen Flüchtlinge reagieren aber verärgert. Einige spucken Sonja an. Sie hassen Deutschland so sehr, dass sie ein Kind dafür bestrafen.

Trotzdem war Sonja auf dem Rückweg fröhlich.

Da! Eine grüne Wiese, und zwei Kinder rennen frei darüber! Mama schau mal!

O guck, ein Apfel der frei auf dem Baum wächst!

Man kann auch Wasser aus der Leitung trinken?

All diese Bilder bleiben für Sonja immer im Kopf hängen.

Mit Hoffnung überlebt man überall

Endlich in Deutschland angekommen, keiner von den Verwandten holt sie ab, fast alle Juden, die in Deutschland geblieben sind, sind ermordet worden. Doch Familie Krips ist froh, dass sie überlebt haben und nach Deutschland zurückkehren können. Einige Juden haben in Shanghai Selbstmord begangen. Wegen der vielen Krankheiten und schrecklichen hygienischen Zuständen hatten Ilse und Hermann Krips mehrfach Malaria und Sonja war auch einmal sterbenskrank. Mit Hoffnung überlebt man überall. Die Erlebnisse in Shanghai sind für immer ein Teil von Sonja, sogar noch wichtiger als das chinesische Hochzeitskleid.

 

Dieser Text basiert auf einem Interview mit Sonja Mühlberger vom 29.05.2014

 

1. Bild: Familie Krips bei der Ankunft in Deutschland, 1947

2. Bild: Sonja und ihre Eltern in Shanghai, 1940

 

 Bildquelle: Sonja Mühlberger

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Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 12. December 2014
Kategorie: Farbflecken

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