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Wir hier drinnen

Geht’s uns noch gut?

Die Filmreview eines Coming-Of-Age-StreifensMichelangelo: Bacchus

von Lea Frauenknecht

Auf dem Bildschirm flimmert das Bild eines weiß gekleideten Raums vorbei. Man sieht Bierflaschen, betrunkene Mädchen und Jungs, jemand, der versucht, mit einem rot-weißen Strohhalm eine drogenähnliche Substanz zu schnupfen. Das Licht ist gedämpft und schimmert in einem Orangerot-Ton Marke Rotlichtmilieu.

Man könnte meinen, in einem zweitklassigen Coming-Of-Age-Streifen gelandet zu sein. Oder einer moralisierenden Dokureihe über die verkommene Jugend heutzutage. Dreimal dürft ihr raten, was es wirklich ist. Richtig: Ein Video, in dem sich eine beliebige Mittelstufen-WG vor der gesamten Schule vorstellt. Und dieses Video wird auch noch mit frenetischem Applaus quittiert. Im Laufe des Abends sollen noch weitere, sehr ähnliche Filme folgen. Zweitklassige Coming-Of-Age-Streifen, die sich als WG-Präsentationen tarnen, scheinen zur Zeit schwer in Mode zu sein. 

Gelinde gesagt war ich über diese Art von Selbstdarstellung ein wenig geschockt, spätestens ab der dritten WG, die sich dem Muster Alkohol, Drogen und dunkle Räume bediente. Um eines klarzustellen: Ich war nicht schockiert, dass Schülerinnen und Schüler der Unter- und Mittelstufe durchaus abseits der marginalen Regelungen des Jugendschutzgesetzes Alkohol, zum Teil sogar Drogen, konsumieren. Selbst jemand, der eine höchst ungesund hohe Portion Naivität an den Tag legt, kann wohl nicht mehr ignorieren, dass der Genuss verschiedener Alkoholika und Drogen selbst in diesem Alter keine Seltenheit mehr sind.

Was mich allerdings schockiert, ist die Aussage, die von diesen Videos ausgeht: Wir definieren uns über unsere vermeintliche Coolness, sprich Alkohol, Drogen und dunkle Räume, weil uns sonst nichts über uns selbst einfällt. Das ist das wahre Armutszeugnis. Nicht die zwei Flaschen Bier, die man an der Rems trinkt. Nicht den einen Joint, den man miterlebt hat. Sondern das Desinteresse an der eigenen Identität. Ein Großteil von uns hat vermutlich, wie es den allermeisten LGH-lern zu eigen ist, zahlreiche Interessen und Hobbies abseits von legalen und illegalen Genussmitteln – und trotzdem fällt uns zu solch einer Gelegenheit nichts anderes zu unserer Darstellung ein als Bier, Wein, Wodka und Konsorten?

Das gibt mir auch über meine eigene Stufe zu denken, und über die gesamte Oberstufe. Sind wir so schlechte Vorbilder? Vermutlich. Aber warum kann man sich, vor allem als Unter-oder Mittelstüfler, davon nicht emanzipieren? Dazu kommt noch, dass allein der Altersunterschied nicht vorsieht, dass man versucht, seine Vorstellungen von Coolness an den teilweise wesentlich Älteren auszurichten. Für Oberstufenschüler ist es vollkommen normal, zu trinken und ja, unter Umständen auch mal ein wenig mehr zu trinken als nur einen halben Liter schlechtes Dosenbier. Aber das wird und soll auch jeder erst erfahren, wenn die Zeit dafür gekommen ist, und sie wird früh genug gekommen.

Ich will mit diesem Artikel nicht moralisieren oder belehren, ich enthalte mich auch einer konkreten Stellungnahme zum Konsum von diversen Genussmitteln. Wir allen haben früher oder später unsere Erfahrungen damit gemacht, oder werden in näherer oder fernerer Zukunft in Kontakt damit kommen – trotzdem kann ich uns allen nur wünschen, dass dieser Konsum nie das Einzige sein wird, was uns, vor allem als Gemeinschaft von Hochbegabten, ausmacht. Lasst auf diese Coming-Of-Age-Premiere nicht noch einen zweiten, noch ideenloseren Teil folgen.

Bildquelle: Michelangelo, Bacchus (von Rufus46 über Wikimedia Commons)

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Quelle: derfarbfleck
Website: http://www.derfarbfleck.de/old
Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 29. September 2014
Kategorie: Wir hier drinnen

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7 Kommentare zu “Geht’s uns noch gut?”

  1. Richtig so. Danke.

    Geposted von Pascal | September 29, 2014, 22:08 | Antworten
  2. Danke Lea! Du hast recht, dass es verwundert, dass vor allem WGs, die aus 7. und 8. Klässlern bestehen, solche Videos produzieren.

    Geposted von julius | September 30, 2014, 13:07 | Antworten
  3. Gut gesagt! Was wer konsumiert, ist ja seine Sache, aber sich darüber zu profilieren ist absolut falsch und endet früher oder später in einem Desaster.

    Geposted von Marie | September 30, 2014, 14:44 | Antworten
  4. Danke für euer positives Feedback. Ich bin froh, dass ich nicht die einzige bin, die diese Meinung vertritt…

    Geposted von Lea | September 30, 2014, 17:22 | Antworten
  5. “Ein Großteil von uns hat vermutlich, wie es den allermeisten LGH-lern zu eigen ist, zahlreiche Interessen und Hobbies abseits von legalen und illegalen Genussmitteln – und trotzdem fällt uns zu solch einer Gelegenheit nichts anderes zu unserer Darstellung ein als Bier, Wein, Wodka und Konsorten?” Ein nicht irrelevanter Teil hat aber keine bessere Idee – und das auch zu Recht. Wer hat schon Lust auf Addita, wenn er sich auch die Birne zuballern kann?
    Einem Drogenkonsum – den als unaufgeklärt zu verurteilen ihr eh nicht in der Position seid – habt ihr nichts konkretes entgegenzusetzen; keine Hobbys, keine Freunde, kein Leben, und erst recht kein aufgeklärteres Verständnis von der Thematik; alles was ihr habt ist eure Abstinenz – und das ihr euch darüber auf mindestens genauso erbärmliche Art definiert (mit dem Unterschied, dass ihr es euch nicht eingesteht) setzt dem Ganzen die Krone auf.
    Das Gegenteil von Drogensucht ist nicht Drogenabstinenz, sondern Drogenautonomie. Und gerade für eine Verantwortungselite ist Autonomie doch eine Grundvoraussetzung.

    Geposted von Herr Doktor Doktor | October 3, 2014, 03:25 | Antworten
    • Wie Lea bereits andeutete und Marie schrieb, ist es die Sache eines jeden Einzelnen, was er wie konsumiert. Genuss- und Rauschmittel sind ein nicht zu leugnender Bestandteil der Jugendjahre, und das kann und sollte besser niemand abstreiten – die Realität spricht Bände, am LGH wie auch an jedem anderen Ort, an dem junge Menschen zusammen leben und aufwachsen. Der Knackpunkt an der Sache ist die Art und Weise, wie damit umgegangen wird. Das ist nämlich in der Realität viel diffiziler, als sich sowohl Konsumenten als auch Abstinente manchmal eingestehen wollen.

      Das Ideal wäre tatsächlich die hier angesprochene Autonomie. Wenn sie gelingen würde, wäre wahrscheinlich nicht nur das LGH um ein paar Probleme ärmer. Doch wie in so vielen Fällen ist auch bei diesem Thema die absolute Autonomie eine Utopie. Das ist schade, aber natürlich. Niemand kann erwarten, dass alle Jugendlichen gleichermaßen auf- und abgeklärt agieren. Wie sollen sie denn auch? Das allerdings wäre die Voraussetzung dafür, um eine absolute Autonomie zu ermöglichen.

      Um aufgeklärt zu werden, braucht es nicht viel. Das erlebt man gerade in einem Internat – und natürlich auch daheim im Elternhaus – immer wieder, und doch fruchtet es nicht viel. Warum? Weil für den nächsten entscheidenden Schritt hin zur Autonomie, dem aufgeklärten Handeln, auch erst einmal die Erfahrung selbst gemacht werden muss. Das ist ebenfalls normal und kann nur dank himmelschreiender Naivität – die Lea nach diesem Artikel nun wirklich nicht vorzuwerfen ist – verdammt werden.

      Nun ist es aber so, dass diese Erfahrungen des ersten Biers, des ersten Joints oder was auch immer oftmals durch Ältere angeregt werden. Viele von ihnen handeln sicherlich aufgeklärt oder bemühen sich darum, doch ist es völlig normal, dass das eben nicht auf alle zutreffen kann – auch wenn alle aufgeklärt wurden. Die Aufgabe der älteren Konsumenten (im Falle des LGH naturgemäß nun einmal vor allem die Oberstufe) ist zweifelsohne nicht, die Jüngeren von allem abzuschirmen. Das wäre wider der menschlichen Natur, sprich Neugierde. Sie sollten den Jüngeren vielmehr ermöglichen, ihre eigenen Erfahrungen zu machen, ohne sie dabei zu beeinflussen. Jeder sollte die Möglichkeit haben, sich selbst ein Bild zu verschaffen, ohne dafür gewertet zu werden (Coolness, Freundschaft,…). Nur wer sein eigenes Handeln objektiv reflektieren kann, ist in der Lage, autonom zu werden. Das ist ebenfalls eine Utopie, da es in sozialen Kreisen ständige Interaktionen gibt, die Bewertungen voraussetzen. Umso wichtiger ist es dafür, dass die wirklich aufgeklärten, also so handelnden, Konsumenten sich ihrer Verantwortung bewusst sind. Nur wenn sie die Jüngeren geringstmöglich beeinflussen, haben diese die Möglichkeit, ebenfalls zu aufgeklärten Konsumenten zu werden und somit einen Schritt hin zur erstrebenswerten Autonomie zu machen.

      Was heißt das jetzt in der Realität des LGH? Schon Mittelstufen-WGs, also zweifelsohne die „Jüngeren“, finden es völlig normal, sich über den Rauschmittelkonsum zu definieren. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie das aufgrund bereits völlig autonomer Vorbilder, sprich sich ihrer Verantwortung bewusster Oberstufenschüler und -schülerinnen, für sich beschlossen haben? Verschwindend gering. Die Oberstufe hat eine Vorbildfunktion, und die erfüllt sie zur Zeit offensichtlich nicht so, wie es wünschenswert wäre. Zum Beispiel, indem sie sich selbst mit solchen Streifen vorstellt.

      Dass den jüngeren LGHlern deswegen „nichts besseres“ einfällt, über das sie sich definieren können, liegt also wohl eher nicht daran, dass sie eines Tages ohne fremdes Zutun von der Erkenntnis überrascht worden sind, dass sie sich statt Addita auch einfach die „Birne zuballern“ könnten. Sie wurden beeinflusst. Wir alle werden es, das Phänomen nennt sich Sozialgefüge. Und doch macht es einen bedeutenden Unterschied, wer uns wie beeinflusst. Hier setzt der ewige Kampf der Erwachsenen mit der Jugend um Alkoholregelungen und ähnlichem an. Hier wird eine Schlacht geschlagen, die man zwar nie gewinnen, aber doch zum Positiven verändern kann, ist man sich seiner Verantwortung bewusst. Denn: auch die Jungen werden bald die Älteren sein!
      Wer sich also über seine Abstinenz definiert, verschließt die Augen vor dieser Tatsache und darf zu Recht als erbärmlich bezeichnet werden. Doch was ist, wenn man diese Abstinenz erlangt hat, weil man eben aktiv für sich beschlossen hat, dass die der Aufklärung folgenden Erfahrung nichts für einen war und ist? Das ist dann ebenfalls eine Form der Autonomie, die leider zu gerne unter den Tisch fällt.

      Die aufgeklärt handelnden Abstinenten wollen den Konsumenten – egal welchen – nichts Böses. Sie sind allerdings Kraft ihrer Position oftmals am ehesten in der Lage, einen objektiven Blick auf die Konsumenten zu werfen. Das gilt andersherum natürlich genauso, und deswegen ist es so wichtig, dass solche Diskussionen geführt und angestoßen werden. Beide Seiten haben sich viel zu sagen, und sie verdienen es nicht, in einem Stellungskrieg der Ideologen verheizt zu werden.

      Genau darum verbitte ich mir – und ich bin mir sicher, da spreche ich für einige LGHler und Alumni – allerdings Kommentare à la „Einem Drogenkonsum – den als unaufgeklärt zu verurteilen ihr eh nicht in der Position seid – habt ihr nichts konkretes entgegenzusetzen; keine Hobbys, keine Freunde, kein Leben, und erst recht kein aufgeklärteres Verständnis von der Thematik; alles was ihr habt ist eure Abstinenz“.

      Wer Abstinenz als Gegenteil zum Drogenkonsum gleich mit einem nicht vorhandenen „Leben“ gleichsetzt, hat ein tiefergehendes Problem – und zwar mit sich selbst. Sollten „Drogen“ nämlich gleichzusetzen sein mit „Hobbies, Freunden und einem Leben“, dann ist derjenige, der sich ernsthaft derartig über seinen Konsum definiert, der wahrhaftig Arme.

      Dann bleibe ich lieber abstinent und versuche, mit anderen aufgeklärt handelnden (!) Konsumenten UND Abstinenten eine Möglichkeit zu finden, den Jüngeren ebenfalls diese Wahl zu lassen, ohne sie dank einer Null-Toleranz-Regelung oder ähnlichen Restriktionen erst recht in die scheinbar aufgeklärten Arme derartig verbohrter Konsumenten rennen zu lassen.

      Geposted von Vivien | October 6, 2014, 19:48 | Antworten
  6. Mutter Beimer hat gesprochen! Das Wort zum Sonntag.

    Geposted von Anonymous | October 7, 2014, 08:19 | Antworten

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