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Die Bedeutungsvielfalt des Lesens

SONY DSCein Essay von Arndt Kröger

Es soll ja immer noch Menschen geben, die ab und an zu einem gebundenen Stapel Papier greifen und beginnen, darin herumzublättern. Dann wandert der Blick über Buchstaben, Wörter, Sätze, und Schrift verwandelt sich in Vorstellung. Ach, das Lesen kann so schön sein. Könnte, um genauer zu sein, denn Widerstand regt sich, fast könnte man von antiliterarischen Tendenzen sprechen. Die Kritik am Lesen ist wahrscheinlich genauso alt wie das Lesen selbst, und doch vermag sie, getragen von Digitalisierung und dem steten Passivkonsum von auditiven und optischen Eindrücken, an Konsistenz zu gewinnen.

Was macht das Lesen, dieses mühselige, zeitaufwendige Erfassen von Sprache und Inhalt, überhaupt noch attraktiv oder erstrebenswert? Die Auseinandersetzung mit einem Schriftstück erfordert schließlich ein fast schon überproportional anmutendes Maß an Eigenleistung, ist das überhaupt zumutbar?

Wer liest, der denkt.  Aktives Denken ist beim bewussten Lesen kein optionales Beiwerk, sondern essenzieller Bestandteil, die inhaltliche Erfassung lebt von Eigenständigkeit. Ein Film definiert sich als Medium durch die Vorgabe von Bildern, ein Buch dient nur als Grundlage der Eigenkreativität. Persönlich und flexibel, von Erfahrungen und Ideen ausgehend, entwirft der Leser seine ganz eigene Vorstellung und sein individuelles Verständnis. Situativ vermag so die Literatur, besser zu unterhalten, ohne mit dieser Aussage einen Anspruch auf Pauschalität  erheben zu wollen.

Über die zu erbringende Eigenleistung stolpernd ergibt sich jedoch ein großes Aber: Der Leser kann und sollte sich seine eigene Meinung bilden und vor Augen halten. Geschieht dies nicht, so kann die Schrift, und hinter ihr stehend der Schriftsteller, maßgeblich meinungsbildend wirken, andere Medien vermögen dies zwar ebenso, doch was schwarz auf weiß geschrieben lässt sich oftmals einprägsamer vermitteln. Populistisch versierten Schreiberlingen eröffnen sich umfassende Möglichkeiten, die öffentliche Meinung oder Rezeption von Ereignissen zu beeinflussen. Ohne sich hier in historischen Ausuferungen verlaufen zu wollen, sei lediglich angemerkt, wie oft sich geschriebene Sprache an politischen Umstürzen oder gesellschaftspolitischen Ideologien wie dem Nationalsozialismus beteiligt zeigte, immer daran geknüpft, dass Menschen lasen. Zugegebenermaßen hält sich diese Möglichkeit des Missbrauchs, gerade durch eine stärker vorherrschende, öffentliche Wahrnehmung von Medien, in Grenzen.

Für die Attraktivität des Lesens spricht die Möglichkeit, Entwürfe und Vorstellungen zu erfahren, die weit über die Grenzen unserer Lebenswirklichkeit, seien sie materiell oder immateriell, hinaus reichen. Die imaginären Erlebnisse umfassen Situationen und handeln von Charakteren, die, teilweise aus zeitlich-chronologischen Gründen, in der Surrealität verbleiben. Diese Ermöglichung des Unmöglichen lockt und besitz immenses Anziehungspotenzial. Gegensätzlich dazu verhalten sich Fiktionen, die nonkonforme und unbekannte Handlungsweisen aufzeigen, ebenso wie Irrwege und Abgründe der menschlichen Existenz. Das rege Interesse an solchen Inhalten zeugt entweder vom tendenziellen Hang der Leser, sich an ihrer eigenen Normalität zu ergötzen, oder vom Wunsch, in Ermangelung von realen gesellschaftlichen Identifikationsmöglichkeiten, ein literarisches, der eigenen Persönlichkeit oder Vorstellungen entsprechendes, Spiegelbild zu finden.

Schreiben, Sprechen und Lesen sind Tätigkeiten, mit denen sich täglich auseinandergesetzt wird. Maßgeblicher Effekt dessen: Auch die Sprache veralltäglicht sich, verliert durch einfachen Gebrauch an Komplexität und Vielfalt. Geht man davon aus, dass das Bewusstsein und das Gedankenspektrum lediglich durch die Fähigkeit der Artikulation dieser begrenzt wird, so bestimmt Sprache unser Bewusstsein, bestimmt unsere Identität. Hebt man die Sprache also aus einem rein nützlichen Rahmen und führt sie komplexerer Funktion in einer Lektüre zu, so bereichert und variiert sie maßgeblich den rhetorischen Horizont, nicht zwangsläufig aktiv, bestimmt aber durch passive Einflussnahme. Essenziell dafür ist jedoch der außergewöhnliche thematische Rahmen in seiner Gegensätzlichkeit zur ordinären Normalität.

In dieser ist eine stetige Verschriftlichung eine besorgniserregende Entwicklung. Der Mensch wird im öffentlichen Rahmen zur schriftlichen Erfassung essenzieller Informationen schier gezwungen, Nonverbalität zwecks Effizienz. Bestehende Möglichkeiten zur Kommunikation auf nicht-schriftlicher Ebene werden nicht genutzt, wegrationalisiert, abgeschafft. Zurück bleibt ein Wirrwarr an bruchstückhafter, stichwortartiger Schriftsprache, die mit Eigenständigkeit in der Erfassung nicht, aber auch gar nichts zu tun hat.

Lesen muss entweder als Erlebnis verstanden und erfahren werden, oder aber durch sprachliche Möglichkeiten komplexe Gedankengänge darstellen sowie hervorrufen. Lesen Sie, unbedingt. Romane, Tragödien, philosophische Abhandlungen, sie unterscheiden sich nicht in ihrer Bedeutung. Wann aber der verspätete Zug eintrifft, das  kann man auch den Jemand am Bahnhofsschalter fragen. Pardon, konnte man: Ersetzt durch digitale Anzeigen bietet dieser nur noch Stoff für rankende Legenden.

Bild: Mario Spann via flickr.com

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Quelle: derfarbfleck
Website: http://www.derfarbfleck.de/old
Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 30. March 2014
Kategorie: Farbflecken

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3 Kommentare zu “Die Bedeutungsvielfalt des Lesens”

  1. Donner und Wetter! War das Deine Abi Arbeit?
    Wenn nicht, wann ist das Essay entstanden?
    Vor Deinen Abi Arbeiten oder nach?
    So etwas fließt einem doch nicht in 5 Minuten aus der Feder, oder doch?
    Jedenfalls bin ich heute stolzer Onkel eines ‘ hamel toften’ Neffe!

    Was das heißt, kann man auch nur durch Lesen erfahren!
    Dein stolzer Onkel
    Edmund

    Geposted von Edmund Kröger | April 4, 2014, 17:17 | Antworten
  2. Das war die letzte Deutschklausur vor dem Abi, und ehlich gesagt waren es doch eher vier Stunden als fünf MInuten.
    So, nachdem ich mir jetzt auchnoch rudimentäre Kentnisse in Münsterländer Platt angeeignet hab, kann ich auch mit deinen Lobworten was anfangen.
    Dankeschön :)
    Arndt

    Geposted von Arndt Kröger | April 5, 2014, 14:53 | Antworten
  3. Hallo Arndt,
    ich komme gerade mit Onkel Heiner von der Nordsee/Friedrichskoog zurück
    und habe Deine Essay gelesen. Ich finde ganz hevorragend. Ich bin mächtig
    stolz auf meinen Enkelsohn.
    In Hamburg wünsche ich Dir viel Erfolg und freue mich darauf, Euch am
    Montagabend zu sehen.
    Viele Grüsse Großvater

    Geposted von Eberhard Störkmann | April 7, 2014, 17:37 | Antworten

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