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Kurzgeschichten

Perfekt unperfekt

trauer-blatt-ed0b66da-a587-4541-bc08-473e4ea7ac4aeine Kurzgeschichte von Cosima Friedle

Der Tag, an dem meine Mutter starb, war nicht gerade der beste Tag meines Lebens. Zuerst der Besuch dieses überaus hässlichen Polizisten, mit diesem typischen Es-tut-mir-ja-so-Leid-Blick und seiner betroffenen Stimme. Nach Verkünden der tollen Nachricht nahm er diesen mitleidigen Gesichtsausdruck an, der sagte: Egal, welche Reaktion du jetzt zeigst, es ist ok. Es ist völlig ok, wenn du jetzt traurig, wütend, verzweifelt bist. Dafür habe ich Verständnis, damit kann ich umgehen. Doch mit meiner Reaktion konnte er anscheinend doch nicht umgehen. Ich nickte nur kurz, bedankte mich für die Information und schloss die Tür. Meine Stimme war weder belegt noch zitternd oder tränenerstickt, sie war einfach nur vollkommen neutral. Auch das Schließen der Tür war keine trotzige oder wütende Handlung, es war nicht mehr als ein alltäglicher Mechanismus. Nachdem ich mich wieder zurück in mein Zimmer begeben hatte – das weitere, störende Klingeln des Polizisten ignorierend -, versuchte ich, meine Gefühlslage zu analysieren. War ich traurig oder verzweifelt? Am Boden zerstört oder hatte ich das Ganze noch nicht realisiert? Zu meinem Erstaunen traf nichts von alldem zu. Ich spürte gar nichts. Ich musste nicht weinen, ich bekam keine Schreikrämpfe – nicht einmal das kleinste Anzeichen von Trauer oder Betroffenheit. Das besonders Erstaunliche war, dass ich generell kein gefühlskalter Mensch war. Bei meinen unzähligen Siegesfeiern und Preisverleihungen hatte ich immer die gesamte Palette gezeigt: Zunächst Schockstarre, dann Verziehen des Gesichtes, in Tränen ausbrechen, lachen, weinen, lächeln, völlig überwältigt den Preis entgegennehmen. Zweifelsohne verwandelte sich diese anfangs noch spontane Reaktion irgendwann in einen abgespulten Mechanismus, doch die Freude war immer echt. Vielleicht war gerade diese Freude das Problem. Bei genauerem Nachdenken stellte ich fest, dass ich noch nie negative Emotionen hatte. Warum auch? Ich hatte eine absolut perfekte Kindheit, war eine Super-Schülerin, alle meine Verwandten waren noch am Leben – für mich gab es noch  nie Grund zur Traurigkeit. Ich hatte ein perfektes Leben, von vorne bis hinten makellos. Und während ich in meinem Zimmer saß, und völlig unbeirrt weiter meinen Tätigkeiten nachging, schlich sich unbemerkt und leise eine Emotion in meinen Körper. Ganz langsam und unaufhaltsam schlich sie sich durch die Füße in meine Beine, hoch in den Bauch, in die Arme und in den Kopf, bis schließlich auch mein Herz damit erfüllt war. Eine riesige, immense Wut staute sich in mir auf, und sie lief jede Sekunde Gefahr, sich ihren Weg nach draußen zu bahnen und auszubrechen. Ich ging zuerst davon aus, dass sich diese Wut gegen den Polizisten, das Schicksal und die Welt im Allgemeinen richtete. Doch mir wurde schnell klar, dass sie sich etwas sehr Konkretem widmete: Meiner Mutter. Obwohl mir klar war, dass sie für ihren Tod nicht verantwortlich war, dass niemand dafür verantwortlich war, sondern dass es Schicksal war, wurde ich mehr und mehr wütend auf sie. Wie konnte sie es nur wagen, einfach zu sterben und damit meine Perfektion zu zerstören? Ich war von mir selbst geschockt, dass ich in so kurzer Zeit solche Emotionen entwickeln konnte. Als ich jemanden die Tür aufschließen und die Wohnung betreten hörte, packte ich meine Sachen und lief in den Flur. Mein Vater, völlig in Tränen aufgelöst, hatte gerade die Tür hinter sich geschlossen und hatte sichtlich Mühe, nicht zusammenzubrechen. Bevor er etwas sagen konnte, ergriff ich das Wort und sagte: „ Gut dass du da bist, können wir los zum Training?“

 

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Quelle: derfarbfleck
Website: http://www.derfarbfleck.de/old
Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 26. March 2014
Kategorie: Kurzgeschichten

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