derfarbfleck

Die Welt da draußen

“Man fühlt sich wie auf einem anderen Planeten.”

„Die Welt ist meine Universität.“, sagt Nicole Mtawa, gebürtige Gmünderin. Während dem Studium brach die heute 34-Jährige auf: Sie wollte die Menschen, Länder und die Armut kennenlernen und fand ihre Lebensaufgabe 2002 in Indien, wo sie die schwerkranke Jalia betreute und 2011 ein Heim für vollpflegebedürftige Kinder eröffnete. Vier Frauen leben dort mit fünf Kindern zusammen, um ihnen die Chance auf ein besseres Leben zu geben. Ein zweites Zuhause ist Mtawa Tansania, wo sie auch ihren Mann Juma kennenlernte, der auf der Straße lebte. 2010 gründete sie den Verein Human Dreams, welchen sie alleine über ihren kleinen Laptop verwaltet und dessen Fördermitglieder schon ihren kompletten Bedarf an Mitteln für das Heim in Indien decken.

Wir sahen sie am Montag, den 15.04.13 im Gmünder Rathaus, wo sie über ihr Leben und ihre Bücher, „Sternendiebe“ und „Sonnenkinder“ berichtete. Am darauffolgenden Mittwoch kam Nicole, die lieber geduzt werden will, in ihrem kleinen Mini ans LGH zum Interview.

Von Lea Frauenknecht und Viktoria Kamuf

DerFarbfleck: Nicole, wenn du wie bei der Soiree im Rathaus am Montag von deinen Projekten erzählst, kommt die Frage auf, ob das Motiv für dein Engagement schon durch Eltern oder Freunde gegeben wurde.

Nicole Mtawa: (Überlegt) Gute Frage. Mein Vater war auch schon sehr hilfsbereit, aber eigentlich erinnere ich mich an meine Konfirmation, da hatte ich den Wunsch zu helfen, sodass ich dann mit einer Freundin ins Altenheim gegangen bin, um mich mit diesen alten Menschen zu unterhalten, mit ihnen spazieren zu gehen. Es hat mir schon damals gefallen, etwas Soziales zu tun. So hat es eigentlich angefangen. Dann, in der siebten, achten Klasse, gab es ein Mädchen, die ein schwieriges soziales Umfeld hatte. Auch da war es mein Interesse, zu erfahren, was für Probleme sie hatte  und ich habe eigentlich immer versucht, mit solchen Leuten Freundschaften aufzubauen. Das war für mich von vornherein eine Art Lernprozess; sie hatten ein anderes Leben als ich, das hat mich interessiert und ich war immer froh, wenn es ihnen dann irgendwie besser ging.

DerFarbfleck: Und wie kam es dann zum Studium der Bekleidungstechnik?

Nicole Mtawa: Also das war ein Umweg. Ich wollte Hebamme werden, ich habe auch immer gesagt, dass ich nicht studieren will, sondern einen Beruf erlernen, der mich glücklich macht, in  dem man halt sein Geld verdienen kann. Durch viele Absagen bin ich aber schon so negativ beeinflusst gewesen, dass ich nach Alternativen gesucht habe. Eine war eben, etwas im kreativen Bereich zu machen, anstatt in die soziale Richtung zu gehen. Viel überlegt, ob mir der Beruf dann später Spaß machen würde, habe ich eigentlich nicht, aber das Studium war wirklich ganz nett.

DerFarbfleck: Wann genau kam denn dann der Auslöser für die Hilfsprojekte, war das nach dem Studium?

Nicole Mtawa: Nein, das war dann während dem Studium. Das dritte Semester ist auf der Fachhochschule ein Praxissemester, das habe ich noch in Deutschland gemacht. Dann kam das vierte Semester und dann verkündete mir mein Freund, mit dem ich schon sieben Jahre lang in einer Beziehung war, er würde ein halbes Jahr nach Kanada gehen. Für mich ist damals ein bisschen die Welt zusammengebrochen. Ich war also 22 und wollte zumindest zur gleichen Zeit weg wie er, damit ich es irgendwie besser ertragen kann. Also bin ich nach Australien und habe da ein Urlaubssemester eingelegt. Obwohl das noch nichts mit sozialen Projekten zu tun hatte, war Australien für mich so der Schubser in die weite Welt hinaus, um andere Leute kennenzulernen, die auch mit dem Rucksack rumreisen, die aus verschiedenen Ländern kommen und viele Geschichten mitbringen und danach hab ich dann gesagt: Ich will nicht mehr nach Deutschland. (Lacht) Ich bin aber immer noch zum Weiterstudieren nach Deutschland gekommen. Im 6. Semester wollte ich mir ein Land aussuchen, in dem ich über den Winter sein konnte. Seit ich 18 war, hatte ich ein Patenkind bei einer Hilfsorganisation. Und dieses Patenkind lebte in Tansania. So bin ich eigentlich über meine Patenschaft nach Tansania gekommen, hab mein Auslandssemester nach dorthin verlegt. Das heißt offiziell habe ich in einer Textilfabrik mein Praktikum gemacht, aber war eigentlich weniger daran interessiert, ich wollte wirklich das Land und die Leute kennenlernen und vor allem die Armut.

DerFarbfleck: Wie genau hast du den Zugang zu den Menschen dort gefunden?

Nicole Mtawa: Da findet jeder Zugang ohne sich Gedanken zu machen, weil die Leute eben doch ganz anders sind, viel offener, es ist gar keine Mauer zwischen einem.

DerFarbfleck: Gibt es keine Vorurteile gegenüber „Weißen“ oder Europäern?

Nicole Mtawa: Nein, also Vorurteile gibt es, denke ich mal, in jedem Land, aber nicht so, dass man sie spürt oder denkt, man sei nicht willkommen. Es sind eher die Vorurteile wie, dass wir alle reich wären – was wir im Verhältnis gesehen natürlich auch sind. Aber sie verstehen da nicht den Unterschied zwischen einem Studenten und einem Geschäftsmann, der wirklich ein paar Tausender auf dem Konto haben könnte. Aber sonst geht die Kontaktaufnahme von selbst, wirklich an jeder Straßenecke, egal ob man im Bus sitzt, wo auch immer, ist man mit Leuten in Kontakt und fühlt sich, als würde man sie seit Jahren kennen.

DerFarbfleck: Bist du dann so auch mit Juma in Kontakt gekommen, einfach durch Zufall?

Nicole Mtawa: Ja, es war mitten auf der Straße, als er mich angesprochen hat. Das kann einem immer passieren, dass jemand einfach sagt: „Hey, wo kommst du denn her?“. Dann muss man halt entscheiden, ob man sich in ein Gespräch verwickeln lassen will oder nicht.

DerFarbfleck: Wie war speziell für Juma denn diese Entwicklung: Er ist vom Straßenkind fast zu einer Berühmtheit geworden, es gibt jetzt ein Buch über ihn?

Nicole Mtawa: Es waren sehr viele Stufen und ein langwieriger Prozess. Als ich ihn kennengelernt habe, hat er sich eigentlich noch als Kind wahrgenommen, daher auch die Aussage: „Ich habe keine Mutter und keinen Vater mehr.“. Auch der Weg zurück in die Gesellschaft war schwierig, dadurch, dass seine Sprachebene eine andere war, durch diesen Straßen-Slang. Er hatte Ängste, ganz normale Einkäufe zu tätigen, weil er es einfach gewohnt war, immer in seiner Gruppe zu sein, mit seinen anderen Kumpels im Ghetto zu wohnen, sich alles zu teilen. Er konnte sich dadurch wirklich von dem gesellschaftlichen Leben ein Stück weit  ausschließen.

DerFarbfleck: Im Moment gehst du ja in ein Land und hilfst, weil du auch die Möglichkeiten dazu hast. Wie können die Länder denn, auch von der politischen Lage aus, es schaffen, sich selbst zu helfen?

Nicole Mtawa: Es ist aus dem Grund schwierig, da dort die Einstellung herrscht: „Je mehr Geld, desto besser“. Dort sind es teilweise die geldhungrigen Leute, die in der Politik den Hebel in der Hand halten. Eigentlich müsste natürlich erst einmal die ganze Korruption abgeschafft werden, dann müssten die Leute sozialer denken. Das ist sowohl in Indien als auch in Tansania das Gleiche. Sicher auch in Deutschland in manchen Fällen, aber ich denke, es ist um Einiges besser, man ist auch sozialer eingestellt.

DerFarbfleck: Fühlst du dich denn überhaupt noch als Deutsche, wo du so viel rumgereist bist, oder doch eher so als „Weltbürgerin“?

Nicole Mtawa: Als was bezeichne ich mich? Als Nomadin (lacht). Wobei, mittlerweile habe ich ja meine Länder auch schon eingegrenzt. Aber als Deutsche würde ich mich grundsätzlich nicht mehr bezeichnen. Zum einen war ich vielleicht nie richtig deutsch, mein Vater ist ja aus Ungarn. Und ich wollte eben immer die Seite der Einheimischen kennenlernen. Wenn man dann so lange mit denen zusammenlebt, so viele Jahre, überall lerne ich neue Lebenseinstellungen kennen, neue Situationen, neue Religionen und das alles führt dann dazu, dass man sich selbst natürlich auch verändert. Wenn man so lange in armen Ländern lebt, hat man ein ganz anderes Gefühl für Geld oder für die Wichtigkeit von materiellen Dingen. In Deutschland könnte ich nicht so in meinem Lebensstil weiterleben wie ich das jetzt gewohnt bin und ich wäre auch nicht so glücklich. Zwei Monate sind für uns gut und dann wieder weg, weil ich mich in solchen Ländern wie Tansania oder Indien einfach viel freier fühle dadurch, dass ich nicht viel Geld brauche und also machen kann, was ich will. Und wenn ich eben soziale Projekte machen will, dann geht das, ich kann selber ein Kinderpflegeheim errichten, was ich jetzt in Deutschland natürlich nicht könnte.

DerFarbfleck: Wie ist es für dich, wenn du dann mit Armut nicht in Tansania oder Indien, sondern in einem reicheren Land wie Deutschland konfrontiert wirst?

Nicole Mtawa: Ich hab schon das Gefühl, dass es hier in Deutschland recht viele Stützen gibt. Man müsste eigentlich erst einmal feststellen, bei denen, die immer noch betteln, was der Grund dafür ist. Ob sie jetzt illegal im Land sind und keine von diesen Möglichkeiten annehmen können oder…es ist schwierig. Es ist sicher nicht so, dass in Deutschland alles reich und gut und in Tansania alles arm und schlecht ist. Aber es ist, egal in welchem Land, immer eine heikle Frage, ob Geld was hilft. In Jumas Fall hätte Geld nichts geholfen, denn er hätte das ja eigentlich sein ganzes Leben so  durchziehen können, auf der Straße zu betteln. Da schadet es den Menschen eher, weil es die Leute zu bequem macht.

DerFarbfleck: Vor allem bei behinderten Kindern fehlt es den Eltern doch wahrscheinlich auch oft an Wissen um die Möglichkeiten einer Operation, die sie mit diesem Geld bezahlen könnten.

Nicole Mtawa: Mit Geld ist das sowieso so eine Sache. Bei Juma war es so, dass das Geld, wenn er es geschenkt bekam, immer nur ein Fetzen Papier war. Wenn aber seine eigene Arbeit und sein eigener Schweiß dahintersteckten, bekam das Geld für ihn einen Wert. Das ist etwas, was ich von ihm gelernt hab: Schenke niemals einem gesunden Menschen Geld. Allerdings kann jemand ohne Gliedmaßen in Indien wiederum steinreich sein, dem gibt halt jeder was, dadurch wird er ein richtiger Geschäftsmann. So gibt es sogar Leute, die hacken sich freiwillig die Glieder ab.
Und deshalb ist es nicht effektiv, einfach so jemandem, der auf der Straße sitzt und den man gar nicht kennt, Geld zu geben. Aber mit ihm ein Gespräch anfangen, sich Schritt für Schritt heranzutasten und nach Lösungen zu suchen, das bringt schon eher was.

DerFarbfleck: Um noch einmal auf Deutschland zurückzukommen, du hast ja vorhin gesagt, dass die Deutschen eher sozialer denken, könnte man sich da vorstellen in wirklich großen Dimensionen etwas zu erreichen wenn sich noch mehr stärker in Ländern wie Indien engagieren würden?

Nicole Mtawa: Na klar, das denke ich schon. Auch für uns ist es wichtig, kontinuierlich jemanden aus Deutschland beim Projekt dabeizuhaben. Ich würde die Leitung nicht an jemand Einheimischen abgeben, das hört sich zwar diskriminierend an, aber leider sind es keine Zufälle, sondern oft die Regel, dass sich zum Beispiel jemand vom Land das Projekt unter den Nagel reißt und dann Geld damit macht, anstatt zu helfen. Und deswegen denke ich, es ist gut, wenn man so etwas Kontrolle darüber hat, und seine Werte bezüglich Hygiene und Bildung und auch seine soziale Hilfsbereitschaft in dem Land lässt. Ich denke, dass es für jemanden, dem es jetzt psychisch nicht so gut geht in Deutschland wie eine Therapie ist, in ein anderes Land zu gehen. Es ist wie eine Gehirnwäsche, man fühlt sich wie auf einem anderen Planeten und lernt auch, das Leben aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Wenn solche Menschen diese Gelegenheit ergreifen würden und sich in anderen Ländern aktiv für etwas einsetzen würden, wäre das gut. Aber ich selber, ich bleibe schon immer auf der gleichen Schiene und errichte etwas für vollpflegebedürftige Kinder. Sollte unser zweites Projekt [ein Kinderdorf in Tansania, Anm.d.Red.] wieder total durch die Fördermitglieder versorgt sein, dann kann man wieder über ein drittes Projekt nachdenken. Aber die Leute sind immer von sich aus zu uns gekommen, ich will nicht mit ständiger Werbung wie die großen Organisationen arbeiten. Bei uns war das anders, wir haben nicht einen Verein gegründet und erst einmal viel Geld gesammelt, sondern eben Schritt für Schritt aufgebaut.

DerFarbfleck: Gibt es denn ein Land, welches du als dein Lieblingsland bezeichnen würdest?

Nicole Mtawa: Es war lange Tansania und das ist es eigentlich auch immer noch. Wenn man nach Tansania kommt, ist es erst einmal wie im Paradies und ich kann mir keine freundlicheren Leute auf der Welt vorstellen. Aber irgendwann hatte ich dann mal die Nase voll von Tansania. Das lag auch daran, dass ich mich eine Zeitlang um jugendliche Straßenkinder gekümmert habe, und das ist immer sehr schwer. Jugendliche, die gesund sind, die sagen zwar, dass sie Hilfe wollen, aber in Wirklichkeit wollen sie doch lieber ihre Freiheit und ihre Freunde behalten. Ich denke, mit vollpflegebedürftigen Kindern hat man es in diesem Punkt doch einfacher, weil es um Leben und Tod geht und nicht mehr um einen Wettkampf, wer schlauer oder überlegen ist. Doch mit dem neuen Projekt im Auge denke ich wieder, dass Tansania ein ganz tolles Land ist. Von der Landschaft schon allein, es gibt tolle Strände, tolle Nationalparks, es gibt die netten Menschen und alles ist noch etwas natürlich geblieben, ist noch nicht so touristisch. Und es ist auch sehr billig für uns, das Essen und der Transport sind sehr günstig.

DerFarbfleck: Das ist natürlich auch wichtig, um dort etwas aufzubauen.

Nicole Mtawa: Um etwas aufzubauen und um dort zu leben, um nicht an Deutschland gebunden zu sein. Insofern ist schon Tansania mein Lieblingsland. Als ich dann mal nach Madagaskar mit dem Frachtschiff gefahren bin, habe ich auch gemerkt, dass Reisen nicht mehr das Gleiche wie früher war. Früher, da wollte ich die ganze Welt erkunden, seitdem ich Juma kennengelernt habe ist dieses Gefühl nicht mehr so stark da. Deswegen drehe ich mich jetzt immer so im Kreis zwischen Indien, Tansania und Deutschland und unseren Ferienjobs.

DerFarbfleck: Durch welche du auch immer wieder Gelegenheit bekommst neue Länder kennen zu lernen.

Nicole Mtawa: Genau, auch das ist immer wieder ein Tapetenwechsel, den braucht man, sonst brennt einem die Sonne in Tansania das Hirn raus (lacht). Es ist dort wirklich sehr heiß.

DerFarbfleck: Wir bedanken uns für das Gespräch.

Wenn ihr euch für Nicole Mtawa und ihr Projekt interessiert, schaut doch mal nach auf https://www.humandreams.org/

 

Dieser QR-Code enthält den Link zum Online-Artikel
Quelle: derfarbfleck
Website: http://www.derfarbfleck.de/old
Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 28. April 2013
Kategorie: Die Welt da draußen, Stars on Page

Der Artikel ist urheberrechtlich geschützt und darf nur zu privaten Zwecken weiterverwertet werden. Jede andere Verwendung bedarf der schriftlichen Genehmigung des Autors. Für Leserbriefe nutzen Sie bitte die Kommentarfunktion unterhalb des Online-Artikels.

Keine Kommentare bisher zu ““Man fühlt sich wie auf einem anderen Planeten.””

Lass einen Kommentar da