derfarbfleck

Ausgestrahlt und Abgedruckt

Oh Captain! My Captain!

von Lea Frauenknecht

„O Captain my Captain, our fearful trip is done, the ship has weather’d every rack, the prize we sought is won“ (Zu Deutsch: „Oh Käpt’n, mein Käpt’n, unsere Reise ist vollbracht, wir haben jedes Riff umschifft, der Preis ist uns gegönnt“).

Diese vier Zeilen entstammen einem Gedicht des amerikanischen Dichters Walt Whitman, das der ein oder andere Leser wohl schemenhaft aus dem Film „Der Club der toten Dichter“ kennen mag. Whitman schrieb das fünfstrophige Gedicht kurz nachdem er vom Tod Abraham Lincolns erfuhr, auch das wird im „Club der toten Dichter“ erwähnt. Wie die Poesie Whitmans allerdings in diesem Gedicht mit den geschichtlichen Ereignissen seiner Zeit und vor allem mit der Person Lincolns zusammenhängt, konnte erst wirklich herausfinden, wer zuletzt den Spielberg-Film „Lincoln“ sah.

Gleich am Anfang befindet sich eine echte Schlüsselszene für Whitmans Gedicht, in der der jüngst für seine Rolle Oscar-prämierte Daniel Day-Lewis als Lincoln seiner Frau von einem seiner Träume erzählt, deren Deutung sie häufig übernimmt. Er sieht sich darin selbst als Kapitän eines Schiffes, auf dem er als einziger an Deck steht, Ausschau hält und irgendwann sogar glaubt, ein Ufer zu erkennen. Auf diesem Traum baut die gesamte Symbolik in Whitmans Gedicht auf, und das Ufer wird im Film wie auch im Gedicht als Lincolns größtes Ziel dargestellt: Die Sklaverei in den Südstaaten seines Landes zu beenden, die auch der Grund sind, weshalb in jener Zeit der Sezessionskrieg in Amerika wütete, der unglaublich vielen „Yankees“ aus den Nordstaaten und noch viel mehr Kämpfern aus den Südstaaten das Leben kostete, da Letztere den Nordstaatlern zahlen- und waffenmäßig entscheidend unterlegen waren. Der Krieg brach aus, nachdem sich einige Südstaaten, die später die sogenannte „Southern Confederacy“ bilden sollten, sich geweigert hatten, die Sklaverei abzuschaffen, da dies für sie automatisch weniger Ertrag auf ihren Baumwollplantagen und einen Wirtschaftseinbruch bedeutet hätte.

Um den Krieg zu beenden und gleichzeitig die Sklaverei zu verbieten, bleibt Lincoln nur eine Möglichkeit: Das dreizehnte „amendment“, einen Verfassungszusatz, der die Sklaverei offiziell abschaffen würde, im Repräsentantenhaus zur Abstimmung zu bringen und durchzusetzen. Dieser Antrag war allerdings schon ein Mal an der benötigten zwei Drittel-Mehrheit gescheitert, hauptsächlich an den fast durchgängig mit Nein stimmenden Demokraten, die sich zwar ein Ende des Krieges wünschten, vor einer Gleichberechtigung der „Neger“ allerdings zurückschreckten. Vor der zweiten Abstimmung greift Lincoln nun also zu etwas unlauteren Mitteln, da er sonst keinen Ausweg aus der Ungerechtigkeit und der Spaltung der amerikanischen Staaten sieht: Er lässt demokratische Abgeordnete bestechen, indem er sie mit Beförderungen lockte, sollten sie den Verfassungszusatz gegen die Sklaverei befürworten. Auch familiär geht Lincoln in dieser Zeit durch ein Jammertal – sein studierender Sohn widersetzt sich seinen Anweisungen und tritt aus Ehrgefühl der Armee bei, seine psychisch labile Frau trauert immer noch um den vor Jahren verstorbenen Sohn und belädt sich in dieser Hinsicht mit Schuldgefühlen. Am Tag der Abstimmung geschieht schließlich das scheinbar Unmögliche, das Verbot der Sklaverei erreicht eine knappe zwei Drittel-Mehrheit.

„Our fearful trip is done, the ship has weather’d every rack, the prize we sought is won“ – Whitman blickt in diesem Moment auf den beschwerlichen Weg Lincolns zum dreizehnten „amendment“ zurück, während „Captain“ Lincoln nun das sichere Ufer, die Gleichberechtigung, das Kriegsende und die Wiedereingliederung der Südstaaten ansteuern kann. „The port is near, the bells I hear, the people all exulting“ (Zu Deutsch: „Der Hafen nah, die Glocken läuten, die jubelnde Menge“) beschreibt die Beliebtheit, die Lincoln im Volk hat, im Film wird er gar als „Halbgott“ beschrieben. Seine Politik ist mehr als bürgernah, im Film kümmert er sich um die kleinen Probleme einfacher Bürger, die zu ihm kommen und fährt zu den Kriegsschauplätzen, um die Soldaten in ihrem Kämpfen gegen die Sklaverei zu bestärken. Und nach der Durchsetzung des dreizehnten Verfassungszusatzes sieht man im Film Paraden von Bürgern durch die Straßen Washingtons ziehen, die inbrünstig den „battle cry of freedom“, den Lincoln einst als Wahlkampfschlager benutzte, singen.

Doch nur wenige Tage später wird das erst errungene Glück entscheidend getrübt: „But o heart! Heart! Heart! O the bleeding drops of red, where on the deck my Captain lies, fallen cold and dead.“ (Zu Deutsch: „O Herz! Herz! Herz! O blutig rote Tropfen, wo an Deck mein Käpt’n liegt, gefallen, kalt und tot.“) Bei einem Opernbesuch fällt Lincoln einer Verschwörung zu Opfer – ein radikaler Südstaatler schießt auf ihn, der Präsident stirbt. Allein über diese Verschwörung von Südstaatlern wurde 2010 ein ganzer Film gedreht, „Die Lincoln Verschwörung“. Lincolns Tod jedoch tut der Begeisterung für die Freiheit und den Frieden und vor allem der Anbetung Lincolns als Helden keineswegs Abbruch, nein, er befördert sie sogar und so beschreibt es auch Whitman: „Rise up – for you the flag is flung- for you the bugle trills, for you bouquets and ribbon’d wreaths, for you the shores a-crowding, for you they call, the swaying mass, their eager faces turning.“ (Zu Deutsch: „Steh auf – für dich gehisste Flaggen – für dich das Horn geblasen, für dich die Blumen und die bunten Kränze, für dich die Menschen an den Küsten, dich rufen sie, die wiegenden Massen, die Gesichter eifrig drehend“).

Doch auch, wenn Lincoln all das erreicht hat, was er wollte, und der Sklaverei zuerst in Amerika Abbruch tat und damit auch ein deutliches Zeichen für den Rest der Welt gab, wie Whitman in „The ship is anchor’d safe and sound, its voyage closed and done“ (Zu Deutsch: „Das Schiff, verankert sicher, heil, die Fahrt ist aus, vorbei“) beschreibt, so klingt in seinem Gedicht am Ende doch noch etwas anderes durch: Anstatt nur den Jubel der Bevölkerung beschreibt Whitman auch den Verlust einer großen Persönlichkeit und lässt seinen poetischen Nachruf eher mit Klage enden als mit Freudengeschrei: „But I, with mournful tread, walk the deck my Captain lies, fallen cold and dead“ (Zu Deutsch: „Doch ich, im Trauerschritt, lauf ab das Deck auf dem mein Käpt’n liegt, gefallen, kalt und tot“).

Bildquelle: By David Bjorgen (Own work), (CC-BY-2.5(http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5/deed.en)), via Wikimedia Commons

Dieser QR-Code enthält den Link zum Online-Artikel
Quelle: derfarbfleck
Website: http://www.derfarbfleck.de/old
Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 03. March 2013
Kategorie: Ausgestrahlt und Abgedruckt

Der Artikel ist urheberrechtlich geschützt und darf nur zu privaten Zwecken weiterverwertet werden. Jede andere Verwendung bedarf der schriftlichen Genehmigung des Autors. Für Leserbriefe nutzen Sie bitte die Kommentarfunktion unterhalb des Online-Artikels.

Keine Kommentare bisher zu “Oh Captain! My Captain!”

Lass einen Kommentar da