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Kurzgeschichten

Eine Szene aus den Tuileries

Eine Kurzgeschichte von Lea Frauenknecht

Als die Dame das Café betrat, das in einem der beengten Pariser Hinterhöfe verborgen lag, wurde es augenblicklich so still, als hätte jemand auf die Stumm-Taste eines Fernsehers gedrückt. Kurz zuvor hatte man noch das beruhigende Summen vernommen, das von jedem einzelnen der barocken Rundtische drang. In der Küche hatte die Aushilfskellnerin unbeholfen mit den Untertassen geklappert, die sie gerade in die für ein solches Café viel zu kleine Spülmaschine einsortierte und aus der Milchdüse der Kaffeemaschine war röchelnd der Schaum in eine Tasse doppelten Café au Lait gelaufen. Ein ganz normaler Mittwochnachmittag im Pariser Arrondissement Tuileries. Und nun hatte vor wenigen Sekunden zuerst die Türglocke auf einem zweigestrichenen „A“ gescheppert und wenig später war diese Frau eingetreten. Sie hies Catherine Dauphin, war in ihren Fünfzigern und mindestens ebenso alltäglich wie ihr Name. Ihre schulterlangen Haare, deren Farbe an einen Ritterhelm aus dem Mittelalter erinnerten, waren zu einem überaus braven Seitenscheitel gekämmt und statt der zur Zeit modisch angesagten Seidenleggins trug sie beige Stützstrümpfe, die mit ihrem kokosschalenfarbenen Kleid zu einem einheitlich hellen Braunton verschwammen. Um den schlanken Hals, an dem keinerlei unliebsame Leberflecken zu sehen waren, trug sie ein Collier aus hellen Perlen, das mit Sicherheit sehr teuer gewesen war. Swarovski vielleicht. Oder war es etwa doch ein Unikat aus einem der exklusiven Bijouterien am Rand des Bois de Boulogne? Ihr Gesicht jedoch war nicht etwa mit briefmarkenbreiten Furchen gespickt, wie man es bei vielen ihrer Altersgenossinnen sehen konnte. Es waren vielmehr kleine Rillen, etwa wie die Rillen im Bürgersteig entlang des Quai de la Seine, wenn schon dutzende Bouquinisten an eben jener Stelle ihre mit Büchern überladenen Stände platziert hatten. Nur wer ganz aufmerksam den Teil ihrer linken Wange beobachtete, der schon fast an den linken Nasenflügel grenzte, der konnte dort eine winzige weiße Narbe entdecken, die sich an eben dieser Stelle entlangschlängelte. Nur dass keiner der nun neugierig in ihre Richtung starrenden Café-Gäste diese Narbe noch sorgfältig auf ihrem Gesicht suchen musste, um sie letztendlich zu finden. Sie war ihnen oft genug in mindestens fünffacher Größe gezeigt worden, in der Pariser Morgenpost etwa, oder in den Fünf-Uhr-Nachrichten am Nachmittag. Jeder einzelne der Café-Besucher kannte die Geschichte, die sich geheimnisvoll hinter dieser Narbe auftat. Sie kannten sie nicht nur, wie man den eigenbrötlerischen Nachbarn zwei Häuserblocks weiter kannte, nein, sie kannten sie bis in ihre mikrometrische Details. Und auch Catherine Dauphin kannte sie nur allzu gut.

Aufgrund einer erst recht spät diagnostizierten Fehlbildung ihres Nervenzellenstamms hatte die Pariser Floristin erst vor wenigen Wochen noch schlaflose Nächte im Pariser Stadtkrankenhaus verbracht, die sie sich mit Lektüren über Dahlien, russische Tundra-Rosen und pelziges, lila Heidekraut vertrieb. Gleichzeitig hatten die Ärzte der Klinik ebenso viele schlaflose Nächte verbracht, die Ohren hoffend an die Hörmuschel des Krankenhaus-Telefons gepresst, um nach einem toten Organspender zu fanden, dessen Nachkommen bereit waren, seinen Nervenzellenstamm bereitzustellen. Ein paar Tage zuvor war die Frau eines berühmten Chanson-Sängers namens Frédéric Delacourt, der öfters Konzerte in den Tuilerien gab, bei ihrem Urlaub in der italienischen Po-Ebene tödlich verunglückt, als ihr ein betrunkener Paparazzi, der sie für Drew Barrymore hielt, ein Pizza-Rad mitten ins Herz rammte. Dadurch wurde die Herz-Kreislauf-Funktion der guten Frau zwar dementsprechend beeinträchtigt, nicht jedoch ihr zu dieser Zeit noch kerngesunder Nervenzellenstamm. Und da Frédéric Delacourt stets eine sehr großzügige Pariser Berühmtheit gewesen war, der ein Viertel seiner Konzerteinnahmen an eine Hilfsorganisation spendete, die sich leukämiekranken Kindern im Nord-Pais-Du-Calais annahm, dachte er an den Eindruck, den er damit bei der Pariser Öffentlichkeit schinden könnte und spendete den Nervenzellenstamm seiner Frau an Madame Catherine Dauphin. Jene war nun nach dem minutenlangem Schweigen, das immer noch wie ein schottischer Nebelschleier das Café bedeckte, und den prüfenden Blicken, die sie von ihren Stützstrümpfen bis zu ihrem linken Seitenscheitel genaustens abtasteten, gerade im Begriff, die Türglocke eines zweites Mal innerhalb von wenigen Minuten auf ihrem schiefen „A“ scheppern zu lassen, als sich das von den barocken Rundtischen ausgehende Brummen wieder erhob. Die Hilfskellnerin fuhr fort, nun einen Stapel von Kuchenkrümeln verklebter Teller in die Spülmaschine zu ordnen, die immer noch viel zu wenig Platz bot für ein Café dieser Größe, und die Milchdüse bereitete nach einer kleinen Pause schon wieder röhrend Schaum für den nächsten doppelten Café au Lait auf. „Was soll’s?“, wandte sich nun auch Dominique in genau diesem Moment an seinen Freund Remy, „in einer Woche werden wir schon wieder über ganz andere Dinge reden.“ Und damit hatte er wohl den Gedanken aller Café-Besucher ausgesprochen.

Bildquelle: By Ryan S B (Own work), (CC-BY-2.0(http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.de)), via Flickr and Wikimedia Commons

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Quelle: derfarbfleck
Website: http://www.derfarbfleck.de/old
Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 06. February 2013
Kategorie: Kurzgeschichten

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