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Kurzgeschichten

Das Fest

von Benjamin Skulec

Es ist wieder einmal soweit. Nun gibt es kein Entkommen mehr.

Am Morgen des 1. Dezember lief der letzte Rest Sand aus dem Glas, zum ersten Mal von Zilliarden Malen. „Last Christmas“ lief im Radio. Wir alle stehen auf der Türschwelle in die Vorweihnachtszeit, die Vorhölle bereits hinter uns. Als kritischer Betrachter kann man in dieser Zeit am Ende jeden Jahres einige interessante Naturschauspiele beobachten, wenn man Pech hat sogar miterleben.

Das Fest der Liebe steht bevor, es herrscht Anarchie in den Einkaufsstraßen. Passanten rennen um ihr Leben, kämpfen darum nicht vom Pulk totgetrampelt zu werden. Das Einkaufszentrum mutiert vom Ort der Entspannung und der inneren Einkehr zum Epizentrum des Chaos.

Langsam nähert sich der Mann im Ledermantel mit Fedorahut dem letzten Exemplar des großen „LEGO Indiana Jones Tempel“. Er zieht einen kleinen Sack mit Sand aus der Tasche, schätzt das Gewicht des begehrten Objektes ab, adjustiert die Menge des Sandes nach und tauscht die beiden in einer flüssigen Bewegung aus. Alles ist ruhig. Zu ruhig.

Es ertönt ein hässlich trockenes Knacken, der Mann mit Hut sackt stöhnend zusammen.

Ein Anderer mit militärisch anmutender Scheitelfrisur, dessen Pony etwas hochgegelt ist, lässt lächelnd den Baseball-Schläger sinken, schnappt sich den Bausatz und rennt los, verfolgt von einer Horde irre schreiender Einkäufer.

Anderer Schauplatz, dieselbe Blasphemie. Es ist eine stinknormale Siedlung, die Lichter in den Fenstern, die Dekoration in den Vorgärten strahlen friedliche Festlichkeit aus. Der goldene Lichtschimmer trügt.

Wie viele blutige Nachbarschaftskriege wurden bis zum letzten Familienmitglied geführt, weil Müllers Haus auch dieses Jahr wieder hübscher glomm?

Feuerwehr und Krankenwagen fahren Dauereinsätze.

Sie knallt die Haustür zu, dreht den Schlüssel zweimal und zieht mit letzter Kraft die Kommode davor. Sie rennt ins Bad, lässt die Tasche achtlos fallen, reißt sich Mantel und Pullunder vom Körper. Sie wäscht das Blut ab. Die Bisswunde ist tief, das Rasierwasser des Freundes muss dran glauben um das Ganze zu desinfizieren. Nachdem sie die Blutung gestoppt hat, fällt ihr ihre Einkaufstasche wieder ein. Sie sieht nach was sie erbeutet hat.

Eine sinnlose Technik-Spielerei, selbstverständlich für den Freund. Funktionsunterwäsche für Oma, ein kleiner Lego-Bausatz für den Neffen. Sie lässt sich gegen den Waschtisch sinken, Tränen laufen ihr sturzbachartig aus den Augen.

Morgen wird sie sich wieder hinauswagen müssen.

Ein Stromausfall. Der Lichtkegel einer Taschenlampe huscht über die Wände der steilen Treppe, welch hinauf auf den alten Speicher führt. Geradezu klischeehaft knarzend öffnet sich die Tür, der kleine Finger aus gelblichem Licht tastet über verhangene Möbel, blinde Spiegel und Kisten, welche hauptsächlich Staub enthalten. Sie kämpft sich bis ganz hinten durch und bleibt vor einem uralten Schubladenschrank stehen. Langsam geht sie auf die Knie, sieht sich dabei nervös um, ganz so als könnte man sie bei etwas Verbotenem ertappen.

Blind tastet ihre Hand im Staub unter dem Schrank herum, bis sie sich endlich um einen kleinen, vom Staub verborgenen Gegenstand schließt. Der alte Schlüssel passt, doch die Schublade klemmt ein wenig. Sie zieht etwas heftiger und mit Schwung rutscht aus dem unbekannten Dunkel ein dickes Buch mit einem Kreuz darauf gegen den Rand der Schublade.

Es ist die Zeit der Besinnung.

Soll heißen, man kramt etwas, was einen das ganze Jahr lang einen feuchten Schafs- ach, sie wissen schon- interessiert hat aus den hintersten und verstaubtesten Ecken hervor und tut so, als wäre man die ganze Zeit über voll dabei gewesen.

Doch der Höhepunkt all dessen steht erst noch bevor.

Es ist der Morgen jenes ganz besonderen Tages. Eine endlose Prozession schleppt sich träge durch die in Trümmern liegenden Straßen. Die Gestalten tragen feine Kleidung, die jedoch nicht über die Blessuren der letzten Zeit hinwegtäuschen kann. Von allen Seiten strömen sie der unzerstört gebliebenen Kirche zu, treffen sich dort. Sie invasieren das Haus Gottes und hoffen dort Vergebung für die Sünden, die sie auf sich luden, zu finden.

Doch alles was sie bekommen werden,

ist Zeug das sie schon haben, nicht wollen und im blödesten Fall sogar beides zusammen.

Bildquelle: By Elmar Ersch (Own work) [CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

 

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Quelle: derfarbfleck
Website: http://www.derfarbfleck.de/old
Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 03. December 2012
Kategorie: Kurzgeschichten

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