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Die Welt da draußen

Die beschnittene Debatte

von Lena Gaissmaier

Nach Sarrazin hat Deutschland ein neues Lieblingsthema gefunden: die Beschneidung. Seit dem Urteil des Kölner Landgerichts über die Strafbarkeit der Beschneidung aus religiösen Motiven hört man Kommentare und Meinungen, vor allem aber Empörung und Aufschreie aus allen Ecken der Republik. Plötzlich sind sich selbst die großen Religionsgemeinschaften einig. Christliche, muslimische und jüdische Verbände protestieren, die Konferenz Europäischer Rabbiner sieht darin gar den “schwersten Angriff auf jüdisches Leben seit dem Holocaust.” 

Es ist viel Bedeutung die einem vergleichsweise kleinen Stück Haut zugemessen wird, womöglich ein Zeichen dafür, dass sich an diesem konkreten Fall viel tieferliegende Interessenskonflikte offenbaren: die unterschiedlichen, teils falschen Auffassungen von Religionsfreiheit und die Tatsache, dass wir immer noch nicht in einem säkularen Staat leben. Stattdessen steht die Politik fraktionsübergreifend hinter einer religiös motivierten Praxis und tut alles um sie zu verteidigen. Und das, ohne eine ernsthafte Debatte darüber geführt zu haben.

Dabei ist das Urteil des Kölner Landgerichts richtig. Das Kindeswohl und das Recht auf körperliche Unversehrtheit wiegen schwerer als die sogenannte “Religionsfreiheit” der Eltern. In der Interpretation des Begriffes „Religionsfreiheit“ liegt das eigentliche Problem im ganzen Diskurs. Religionsfreiheit, wie sie im Grundgesetz verankert ist, ist nicht dasselbe, das die Kirchen und religiösen Verbände für sich in Anspruch nehmen. Befürworter der religiös motivierten Beschneidung berufen sich gerne auf Artikel vier, Absatz zwei des Grundgesetzes, in dem es heißt, “die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet”. Doch Religionsfreiheit bedeutet nicht, im Namen der Religion die Rechte anderer zu beschneiden.

Religionsfreiheit bedeutet, seine Religion im Rahmen der Gesetze ausüben zu dürfen. Wie jede Freiheit endet sie dort, wo die des anderen beginnt. Auch ein Kind hat ein Recht auf Religionsfreiheit, die ihm durch einen irreversiblen Eingriff wie die Beschneidung genommen wird.

Je länger man über die Problematik nachdenkt, desto schwerer wird es, Argumente für eine Beschneidung ohne medizinische Notwendigkeit zu finden, allen voran für eine, die ohne Zustimmung des Betroffenen vorgenommen wird. Oft wird ins Feld geführt, dass die Beschneidung von Jungen eine langjährige Tradition sei und somit nicht einfach aufgegeben werden könne. Aber weder Tradition noch „Religionsfreiheit“ legitimieren Körperverletzung. Auch der Verweis darauf, dass der Glaube gefährdet werde, da die Beschneidung ein zentraler Aspekt der Bindung an Gott sei, hilft nicht wirklich weiter: wenn die Bindung an Gott von einem Ritus wie der Beschneidung und nicht der religiösen Überzeugung abhängt hat eine Religionsgemeinschaft ein größeres Problem. Gerne werden darüber hinaus gesundheitliche Vorteile der Beschneidung zu ihrer Legitimation herangezogen, diese sind aber meist unzureichend belegt. 1910 reklamierte ein amerikanischer Arzt den Nutzen darin, dass Beschneidungen die allgemeine Erregbarkeit verminderten, die Masturbation erschwerten, die Liebeslust verminderten und die Hygiene besser sei. Belegt wurden diese Aussagen bis heute nicht. In der Folgezeit wurden verschiedenste Empfehlungen der ärztlichen Fachgesellschaften publiziert: mal pro, mal contra Beschneidung. Festzuhalten bleibt, dass es bis heute keinen wirklich gut belegten medizinischen Nutzen der Beschneidung gibt, sodass als Maxime ärztlichen Handelns der Grundsatz „primum non nocere“ übrig bleibt.

Doch leider scheinen deutsche Politiker keinen klaren Blick auf wissenschaftliche Daten und die Gesetze mehr bewahren zu können, sobald sich religiöse Autoritäten in ihren Privilegien gefährdet sehen. In Deutschland haben Religionen auch fast 250 Jahre nach der Aufklärung immer noch einen Sonderstatus, was man unter anderem am Beispiel des konfessionsgebundenen Religionsunterrichts in Schulen sehen kann. Diese Privilegien, die schwer mit der Trennung von Kirche und Staat vereinbar sind, werden standhaft verteidigt, kaum jemand wagt es, sie anzutasten. Zu groß ist die Angst, sich angesichts des großen Einflusses der Religionsgemeinschaften unbeliebt zu machen beziehungsweise Wählerstimmen zu verlieren. Auch deshalb ist die „Beschneidungs-Debatte“ dringend notwendig. Doch was derzeit in Deutschland passiert verdient den Namen Debatte oder Diskurs nicht. Ernsthaft diskutiert wir hier nicht. Es werden Forderungen gestellt, die es möglichst schnell umzusetzen gilt. An die Konsequenzen oder die Rechtmäßigkeit dieser Forderungen wird kein Gedanke verschwendet. Auch trägt der dauernde Verweis auf Deutschlands Geschichte und den Holocaust nichts Förderliches bei, sondern beeinträchtigt eine offene Diskussion. Es steht außer Frage, dass den Juden (und anderen Verfolgten) von Deutschen unbeschreibliches Leid zugefügt wurde. Das sollte nie in Vergessenheit geraten oder relativiert werden. Doch dieses Leid kann ein Verhalten, das den Menschen- und Kinderrechten widerspricht nicht entschuldigen und schon gar nicht legitimieren. Das wäre ein falsch verstandenes Geschichtsbewusstsein.

In einem fraktionsübergreifenden Antrag von Union, SPD und FDP heißt es: „jüdisches und muslimisches religiöses Leben muss weiterhin in Deutschland möglich sein.“ Dagegen ist nichts einzuwenden, in Deutschland sollen und müssen auch religiöse Menschen willkommen sein. Aber wie jeder andere Bürger auch, müssen sie sich an geltendes Recht halten. Ein Verbot der religiös motivierten Beschneidung macht ihr religiöses Leben nicht unmöglich. Es macht klar, dass es keine grenzenlose Freiheit für alle geben kann. Und es wäre ein Signal als überfälliges Bekenntnis zu einem säkularen Staat und den im Grundgesetz verankerten Menschen- und Kinderrechten.

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Quelle: derfarbfleck
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Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 25. September 2012
Kategorie: Die Welt da draußen

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Ein Kommentar zu “Die beschnittene Debatte”

  1. Gut und richtig argumentiert!

    Geposted von Silvia Erb-Dietrich | October 2, 2012, 10:06 | Antworten

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