derfarbfleck

Wir hier drinnen

Und jedem Anfang…

     „Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe

     Bereit zum Abschied sein und Neubeginne

    Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern

    In andre, neue Bindungen zu geben.

    Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

    der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“

                    (Hermann Hesse)

Foto: Lea Frauenknecht

Gerade jetzt, nachdem sich Anfang August der Todestag Hermann Hesses zum 50. Mal gejährt hat, meinte man schon, sein Gedicht “Stufen”, das wohl eine der bekanntesten deutsche Redensarten beinhaltet, zu Genüge gehört zu haben. Aber dass jedem Anfang ein Zauber innewohnt, muss ich jedes Jahr aufs Neue feststellen. Und immer ist es der gleiche Zauber zur gleichen Zeit.

Es ist Anfang September, wenn ich morgens aufwache und die Luft nicht mehr wie in den Monaten zuvor drückend auf mir liegt wie eine schwere Daunenbettdecke, sondern mir ein leichter Wind ums Gesicht streicht und mich mit seiner plötzlichen Kühle nach einem heißen Sommer kurz erschreckt.

Und dann fällt mir wieder ein, was dieser Wind  zu bedeuten zu hat: Bald geht es zurück in die Schule. Dieses Jahr das vierte Mal für mich zurück ans LGH. Das bedeutet, das sichere Nest zuhause zu verlassen, in dem man die sieben Wochen Sommerferien wie unter einer Käseglocke verbracht hat, geschützt vor jeglichen Pflichten. Es bedeutet aber auch: wieder mehr Kontrolle über sich und die damit verbundenen Freiheiten zu haben. Die Poster mit Stecknadeln an die Wand pinnen zu dürfen, auch wenn das Löcher macht. Oder mit Patafix, auch wenn Patafix grauenhafte Flecken gibt. Oder mit Tesa, auch wenn das Verschwendung ist. Zum Beispiel.

Ein neues Schuljahr, das bedeutet zwar jedes Mal aufs Neue Klassenarbeiten und Hausaufgaben, vom Wecker oder auch vom Weckdienst mehr oder weniger sanft geweckt zu werden und lärmende Mitbewohner, die es zudem nicht zu stören scheint, wenn sich die dreckigen Teller in der Spüle zu einem schiefen Turm von Pisa stapeln.

Es bedeutet aber auch, seinen ganzen Tag stets in der Nähe von Freunden verbringen zu können, mit denen man unzählige schöne freie Nachmittage und Internatssonntage verbringt und das vor allem im Sommer. Es bedeutet, ein sehr viel engeres Verhältnis zu den Lehrern zu haben, als das an normalen Schulen üblich ist, spannende Erfahrungen, die man in den Addita macht – und, ach ja, der Norma wäre natürlich auch nicht zu verachten…

Doch auch, wenn sich die Vor-und Nachteile des Internatslebens oft die Waage halten, würde ich meine Gefühle an solchen Herbstmorgenden nicht als „gemischt“ bezeichnen. Sie sind eher ähnlich wie der Wind, der mich selbst am LGH morgens noch umweht, wenn ich nach dem Aufstehen die Balkontür öffne. Oder zum Frühstück laufe. Plötzlich, vertraut und trotzdem unbekannt und verheißungsvoll.

Denn nur eine Sache gibt es, der ich mit gemischten, wenn nicht sogar negativen Gefühlen entgegenblicke: Meine sieben Kartons aus dem Keller in mein Zimmer zu tragen. Und auch wenn uns im letzten Jahr einige sehr engagierte Lehrerinnen und Lehrer verlassen haben, von denen die meisten schon fast zum „Stamm-Inventar“ des LGH gezählt werden konnten, wird diese Lücke durch Neuzugänge geschlossen, die für das nächste Schuljahr frischen Wind in unsere Schule bringen und sie verändern werden, was nicht unbedingt immer negativ sein muss. Und auch, wenn sich die meisten von uns vermutlich oft wünschen, das LGH wäre so klein geblieben, wie es einmal war und müsste sich überhaupt keinem Wandel unterziehen, wenn sie jedes Jahr wieder feststellen müssen, wie fremd uns das sonst doch so vertraute Umfeld plötzlich geworden ist, wenn es auf einmal von neuen Leuten bestimmt wird, sind wir doch machtlos dagegen, dass sich die Dinge Jahr um Jahr aufs Neue verändern. Der Zauber, den manche von uns als harschen Gegenwind empfinden, ist auch ein Rückenwind. Wir müssten uns nur umdrehen und uns von ihm treiben lassen.

(Lea Frauenknecht)

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Quelle: derfarbfleck
Website: http://www.derfarbfleck.de/old
Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 09. September 2012
Kategorie: Wir hier drinnen

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2 Kommentare zu “Und jedem Anfang…”

  1. Usually I do not read article on blogs, but I would like to say that this write-up very forced me to take a look at and do it! Your writing style has been amazed me. Thank you, very nice article.

    Geposted von coach outlet | September 10, 2012, 12:32 | Antworten
  2. Ein sehr schöner Artikel!
    In diesem Sinne allen LGH-lern ein “frohes neues”, auch erfolgreiches,
    vor allem aber schönes Schuljahr 2012/2013 !

    Geposted von Han | September 14, 2012, 11:02 | Antworten

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