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“Kafka in New York”

Der Mythos Franz Kafka hat auch knapp 90 Jahre nach dessen Tod nicht an Reiz verloren. In zahlreichen Bundesländern gehören die Werke Kafkas bis heute noch zum festen Bestandteil des gymnasialen Lehrplans. Reiner Stach, einer der renommiertesten Kafkabiographen weltweit, stellte sich den Fragen des farbflecks und zeigte unter anderem, dass Kafka unbedingt nach New York hätte gemusst.


derfarbfleck:
 Franz Kafka hat seinem Freund Max Brod einmal einen Kieselstein zum Geburtstag geschenkt. Herr Stach, was würden Sie Franz Kafka zum Geburtstag schenken?

Stach: Das ist ziemlich schwer. Aber wahrscheinlich eine Städtereise. Kafka hat nämlich eindeutig zu wenig von der Welt gesehen (lächelt). Der war ja nur in Paris, Berlin und Prag, aber noch einige Weltstädte kennenzulernen, das hätte ihm gut getan.  Kafka in New York, das wär’s doch.

derfarbfleck: Sie beschäftigen sich ja sehr intensiv mit Kafka. Kennen Sie ihn eigentlich schon besser, als Ihre eigenen Freunde?

Stach: Eine kitzlige Frage (lacht). Wenn ich so darüber nachdenke: Wahrscheinlich ist es wirklich so. Obwohl ich meine Freunde sehr gut kenne, kann ich nicht dermaßen viel über sie erfahren, wie bei Kafka. Zum Beispiel lese ich ja keine Tagebucheinträge oder Liebesbriefe meiner Freunde, von Kafka aber schon.

derfarbfleck: Wie fühlt man sich eigentlich, wenn man derartig tief in die Psyche eines fremden Menschen „eintauchen“ kann?

Stach: Natürlich hat das auch ein Stück weit mit Voyeurismus zu tun. Ich muss auch ehrlich zugeben, als ich das erste Mal Kafkas Briefe an Milena (Partnerin Kafkas, Anm. d. Red.), die sehr offen formuliert sind, gelesen habe,  habe ich aufgehört zu lesen und mir gedacht, das ist nicht für uns bestimmt. Es war mir wirklich unangenehm. Nach einer Zeit aber ist man doch so beeindruckt, dass man weitermacht  (lächelt). Andere aber sind der Meinung, dass die Briefe, auch die an Felice Bauer, nicht hätten veröffentlicht werden sollen.

derfarbfleck: Wie begründen Sie dann, dass man es doch tun sollte?

Stach: Es hängt davon ab, in welcher Situation man sich befindet. In den 50er- Jahren, als zum ersten Mal diskutiert wurde, ob man die Briefe veröffentlichen soll oder nicht, gab es ja noch lebende Angehörige Kafkas. Inzwischen sind wir aber bald 100 Jahre nach seinem Tod und er wird immer mehr zur historischen Figur. Dann hat man natürlich eine andere Perspektive.

derfarbfleck: Wie muss man sich Franz Kafka eigentlich im Alltag vorstellen?

Stach: Er war ein außerordentlich höflicher, zurückhaltender und hilfsbereiter Mensch, dabei oft witzig und selbstironisch. Aber er wirkte keineswegs überangepasst, konnte sogar ziemlich schroff werden, wenn er das Gefühl hatte, respektlos behandelt zu werden. Auf Frauen hat das stark gewirkt, aber auch unter Männern hatte er viele Sympathien. Kafka hatte eigentlich niemals einen Feind.

derfarbfleck: War Kafka nicht ein zutiefst deprimierter Mensch?

Stach: Er war zumindest sehr depressionsanfällig. Es gibt aber viele Leute, häufig sehr intelligente, die eine depressive Grundhaltung haben, diese aber geschickt verbergen können. Man merkt es ihnen nicht an, weil sie sehr witzig sind. Und Kafka war so. Witzig, charmant, selbstironisch, das komplette Programm also. Wenn die Depression wirklich schlimm und akut wurde, dann hat er sich eben zurückgezogen. Man hat ihn dann ein paar Tage gar nicht gesehen und auf einmal war er wieder da.

derfarbfleck: Und diese depressive Grundstimmung konnte er auch zu keiner Zeit seines Lebens abschütteln?

Stach: Nur in Momenten. Wenn er sich z.B. mit Milena getroffen hat, war er wirklich glücklich. Aber eben nur tageweise.

derfarbfleck: Wie könnte man sich Franz Kafka im Alter vorstellen?

Stach: Ich denke, wenn Kafka die Tuberkulose überlebt hätte, wäre er entweder in Amerika oder Palästina gelandet – eins von beiden. Und dort hätte er nicht so weiterleben können wie in Prag, das steht fest. In Prag hatte er ja einen unglaublich engen Freundeskreis, die kannten sich alle untereinander, und das hat ihm nicht immer unbedingt gefallen. Durch einen Umzug wäre das alles gesprengt worden und er hätte sich verändern müssen. Es wäre wahrscheinlich offener, weniger neurotisch und lockerer geworden. Deshalb auch die New York Reise (schmunzelt).
derfarbfleck: Wie viel Persönlichkeit Kafkas ist tatsächlich in seinen Werken enthalten?

Stach: Es hängt extrem eng miteinander zusammen. „Der Prozess“ überschreitet als Gesamtwerk zwar selbstverständlich die Biographie Kafkas; wenn das nicht so wäre, dann hätte es wohl kaum diesen Erfolg gehabt. Aber diese enge Verflechtung kann man besonders dann sehen, wenn man die Werke und die Tagebücher parallel liest. Da finden sich teilweise ein und dasselbe Motiv bzw. Sinnbilder, die seinen und auch gleichzeitig Josef K.s Zustand beschreiben.

derfarbleck: Und wie viel Reiner Stach steckt in Ihren Werken?

Stach: Sagen wir mal so: Dass ich mir gerade diesen Mann ausgesucht habe, um dann eineinhalb Jahrzehnte an seiner Geschichte zu arbeiten, ist natürlich kein Zufall. Ich habe gewisse Affinitäten zu ihm und ich bilde mir auch ein, dass ich ihn recht gut verstehe. Auch seinen Humor weiß ich sehr zu schätzen. Also insgesamt kann ich seine Grundgefühle absolut nachvollziehen. Darin besteht unsere Verbindung.

derfarbfleck: Das bedeutet Kafka holt Sie da ab, wo Sie stehen?

Stach: Ja, das könnte man so sagen.

derfarbfleck: Haben Sie deshalb Kafka auch so lieben gelernt?

Stach: Es gibt mehrere Phasen. Zuerst liest man seine Werke total unbedarft. So richtig Fan wurde ich aber dann, als ich seine Briefe und Tagebücher gelesen habe – da war ich total begeistert. Zu dieser Zeit habe ich mich auch mit ihm identifiziert. Da so das Arbeiten über ihn aber sehr schwer wurde, musste ich wieder Distanz zu ihm gewinnen, was mir auch gelungen ist. Ohne Distanz kann man keine gute Biographie schreiben.

derfarbfleck: Muss man den Begriff des Kafkaesken verstehen, um Kafkas Werk zu verstehen?

Stach: Überhaupt nicht. Das ist eigentlich nur ein Modebegriff. Die meisten Leute, die ihn benutzen, wissen selbst nicht genau, was er bedeutet (lächelt).

derfarbfleck: Welche Bedeutung hat für Sie Franz Kafka im Hinblick auf die Literatur des 20. Jahrhunderts?

Stach: Ich würde sagen, er war der Begründer der deutschsprachigen Moderne. Alle nach ihm hängen von ihm ab. Bestimmte radikale Ideen, z.B. diese sehr moderne Erzähltechnik, hat Kafka das erste Mal getestet. Er hat Wege frei gemacht für diejenigen, die nach ihm schrieben.

derfarbfleck: Was macht den Mythos Franz Kafka aus?

Stach: Er ist eine Figur, die einfach unerschöpflich ist. Er ist so vielschichtig und so komplex, dass man sich lange mit ihm beschäftigen kann. Seiner Originalität wegen, die man bei fast keinem Autor so findet, hat er einfach einen riesigen Erkenntniswert für jeden Menschen. Kafka verblüfft einen derart oft, dass es manchmal beinahe unheimlich wird.

derfarbfleck: Herr Stach, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führten Johannes Gansmeier und David Irion

Reiner Stach, geboren 1951 in Rochlitz in Sachsen,
Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und
Mathematik in Frankfurt am Main,
1985 Promotion über “Kafkas erotischer Mythos. Eine
ästhetische Konstruktion des Weiblichen
.”
1998/99 Gestaltung der Ausstellung “Kafkas Braut”
2002 Erster Band der Kafkabiographie (” Kafka – Die Jahre
der Entscheidungen”)
2008 Zweiter Band (“Kafka – Die Jahre der Erkenntnis”)

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Quelle: derfarbfleck
Website: http://www.derfarbfleck.de/old
Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 14. March 2012
Kategorie: Stars on Page

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