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Farbflecken

König der Kinderstation

Bild: José Goulão @ flickr.com

Bild: José Goulão @ flickr.com

Auf Grund erheblicher, wochenlanger Beschwerden verbrachte Johannes Gansmeier vom 19.05-21.05 seine Zeit in der Kinderklinik Passau. Über seine Erlebnisse berichtet der Patient exklusiv hier im farbfleck wahrheitsgetreu und detailliert. Dabei gibt er einiges aus seinem Innenleben preis und lässt den Leser an seinem Abenteuer teilhaben.

Mir geht es überhaupt nicht gut. Schon seit Wochen habe ich mit extremen Kopf-, Glieder- und Halsschmerzen zu kämpfen. Dazu kommt noch die Müdigkeit. Und die Schlaffheit. Jetzt kommt auch noch Fieber hinzu.

Im Krankhaus Mutlangen kann man mir leider nicht helfen – bei der langandauernden Untersuchung, die aus Bauchabklopfen und Nackentasten besteht kann überraschenderweise kein Befund gestellt werden. „Nimm mal ne Ibuprofen 500, dann müsst’s für die Nacht gehen.“, erläutert mir die junge Assistenzärztin. Gute Idee. Das konnte mir mein Zimmernachbar auch schon attestieren. Aber leider war die letzte Ibu, die ich genommen habe nur ein Tropfen auf den heißen Stein und hat rein gar nichts geholfen, das habe ich der jungen Dame auch vergeblich versucht zu erklären. Trotzdem.

Wir verabschieden uns von dem unglaublich „freundlichen“ Empfangsherrn (vielleicht war er einfach schon müde) und verlassen das Krankenhaus. Die Nacht ist grausam. Schweißausbrüche wechseln sich mit Hitzewallungen ab. Am Morgen bin ich nur noch ein Häuflein Elend. Zum Glück holt mich mein Vater ab und bringt mich in Sicherheit – nach Hause. Die über vierstündige Fahrt ist die Hölle.

Als wäre mein körperlicher Zustand nicht schon schlecht genug, muss ich mich auch noch über zahlreiche LKW ärgern, die mit impertinenter Beständigkeit den Überholstreifen blockieren. Zuhause angekommen ist die Tortur noch nicht vorbei. Mein Hausarzt überweist mich sofort ins Krankenhaus. Nach den Erfahrungen am Vorabend hält sich meine Begeisterung bei dieser Mitteilung in Grenzen. Oder vielleicht, weil meine Kopfschmerzen zu Schwindel und Sehbehinderung führen. Ich kann es nicht genau sagen. Ist mir in dem Moment auch egal.

Das Klinikum Passau liegt malerisch gelegen: Der Inn nur einen Steinwurf weit entfernt in einer Flora und Fauna sondergleichen. Beim „Einchecken“ werden wir von der netten Empfangsdame darauf hingewiesen, wir müssten in den 3. Stock und dann rechts. Gesagt, getan.

In der Notfallaufnahme ist das Bild schon etwas anders: Ich sei hier falsch, müsse in die Kinderklinik. Kinderklinik? Mit 17 Jahren und 10 Monaten? „Ja, er ist ja noch nicht volljährig.“ Also ab zu den Säuglingen. Der lachende Pumuckl an der Tür verrät mir nach gefühlten fünf Stunden Fußmarsch, dass wir endlich da sind. Völlig erschöpft lass ich mich erst einmal im Wartebereich auf einen Stuhl nieder.

Mein Vater und meine Mutter beantworten neben mir gerade den DIN A4 Leitzordner, den sie für meine Aufnahme ausfüllen müssen. Gesegnet sei die Bürokratie. Während ich also fast am Exodus bin, müssen erst wichtige Fragen zu meiner Erkrankung wie „Anzahl der Geschwister“, „Name der Geschwister“ und „Beruf der Eltern“ eingetragen werden. Nachdem das geschafft ist, beginnt das Warten auf den Dienstarzt.

Hier merkt man schnell, dass ich halt nur gesetzlich versichert bin. Aber wenigstens werden mir die 45 Minuten Wartezeit dadurch versüßt, dass alle drei Minuten ein Arzt mit fettem Grinsen an mir vorbeiläuft. Wieso mich keiner von denen behandelt? Haben bestimmt was zu tun.

Endlich kommt eine Krankenschwester und bringt mich in ein Behandlungszimmer. Sie misst die Temperatur und meint daraufhin, jetzt verstehe sie, warum es mir so schlecht gehe. 39.8°C. Nicht schlecht, Herr Specht. Das übersteigt sogar noch meinen Rekord vom Vortag. Aber immerhin ist mir nicht langweilig. Die von meinen Kopfschmerzen verursachten Sehstörungen halten meine Fantasie auf Trapp und sind wenigstens besser als meine Übelkeit. Dann kommt endlich die Ärztin.

Auf dem Namensschild kann ich erkennen, dass sie nicht promoviert ist. Ist das schon ein schlechtes Zeichen? Ganz im Gegenteil. Frau Kremer ist nicht nur freundlich, sondern für ihre geschätzten 26 Jahre ungemein kompetent. Schnell ist sie Herrin der Lage. Während ich mir auf Anraten der Schwester noch eine Ibu 600 reinzieh, analysiert Frau Kremer schnell das Krankheitsbild.

Nach ca. zehn Minuten gekrümmten Liegens ist der Frauenanteil im Zimmer derartig gestiegen, dass ich mich wie Hugh Hefner fühle (vielleicht liegt das auch am Fieber?). Neben meiner Mutter und Frau Kremer sind mittlerweile noch zwei weitere Schwestern im Raum, die sehr um mein Wohlergehen besorgt sind.

Doch meine Ruhe wird abrupt durch Gewühl im Spritzenschrank gestört. Frau Kremer erklärt mir, dass sie mir nun eine Infusion setzen wird (an ihrem Erklärungsstil merkt man, dass sie normalerweise Kleinkindern ihr Vorgehen erklärt. Das macht sie jedoch nicht minder sympathisch). „Das wird jetzt ganz kurz sehr unangenehm.“, meint sie. Woher weiß sie das? Vielleicht steh ich ja auf Spritzen? Aber anscheinend ist ihre Menschenkenntnis gut genug, um zu erkennen, dass ich das nicht tue. Sie drückt die Spritze in meine Ader und der Schmerz durchflutet meinen Körper. Wenigstens nur „ganz kurz“ denk ich mir. „Ups, du hast ja ne dicke Haut“, ertönt plötzlich aus der Kremerins Lippen. Nach einem zweiten Versuch ist meine Haut durchdrungen und die Spritze in meiner Ader platziert. „Du hast ja fast schon ne Elefantenhaut“, das Resümee zweier Angriffe. Soll das ein Kompliment sein? Ich betrachte es mal als eines.

Getreu dem Oktoberfestmotto „O’zapft is!“ werden geschätzte 35 Ampullen mit meinem Blut gefüllt (vielleicht waren’s auch nur fünf). „Is ja gar nicht blau“, ist der einzige Kommentar den ich bei diesem Anblick über die Lippen bringe. Lachend meint Frau Kremer da habe mich wohl jemand beschissen. Na toll, auch das noch. Doch kein Blaublüter. Beide Krankenschwestern stürmen heran um meinen Arm zu tapen.

Jetzt bin ich schon fast fertig. Meine Karosse wartet schon startbereit vor dem Zimmer auf mich. Es ist ein tiefergelegtes Krankenhauskinderbett, Baujahr 2001. Es überzeugt vor allem durch sein aerodynamisches Bettende. Die Kindersicherungsgitter haben sie extra für mich abgemacht. Wie zuvorkommend. Die Ärztin tippt noch irgendetwas in den Computer und erklärt, dass ich jetzt erst mal hier bleiben müsse. Dann darf ich mich endlich ins Bett legen. Das Bärchenkissen, das liebevoll auf dem eigentlichen Kissen platziert wurde, gibt mir die Zuversicht, dass ich es bestimmt ein, zwei Tage hier aushalten werde. Ich decke mich zu und die Schwestern schieben mich in den Gang. Mitten in den Gang. Dort abgestellt bekomme ich ein „gleich wirst du abgeholt“ zu hören und schon sind sie weg. Also warte ich. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Eine Schwester kommt und sagt das „Abholteam“ sei schon unterwegs. Die Kinderklinik ist nicht klein, aber braucht man wirklich 15 Minuten?

Bevor ich mich ärgern kann, taucht mein Chauffeur schon auf. Vielmehr ist es eine Chaufferin. Geschmeidig lenkt sie mich Richtung Fahrstuhl und fährt mit mir in die Station zwei. Auf dem Weg dorthin erklärt sie mir, dass ich ein Einzelzimmer bekomme, weil ich für die Kinderstation schon zu alt sei, um einen Zimmerpartner zu bekommen. Aha. Bin ich vielleicht doch privatversichert? Eher nicht, der Begrüßungscocktail mit passender Bardame wird mir nämlich vorenthalten.

Jetzt bin ich endlich da. Ein lachender Wicki an der Eingangstür lässt mich in alte Zeiten zurückverfallen. Doch ich muss konzentriert bleiben. Durch die Gegend gefahren zu werden ist durchaus ermüdend. In meinem Zimmer angekommen werde ich gleich an den Tropf gehängt. Sodann werde ich in die Funktionsweise des Krankenhausmobiliars eingeweiht. Die Krankenschwestern hier auf der Station könnten fast alle meine Töchter sein (Ok, vielleicht eher meine Schwestern). Stolz erzählt mir Schwester Steffi (sie könnte meine große Schwester sein), dass ich gerne Nintendo Wii spielen könnte, sobald sich mein Zustand verbessert habe. Von dieser Idee nur mäßig begeistert, winke ich ab und erkläre, ich würde lesen bevorzugen. Sehr zur Steffis Überraschung. Jetzt endlich schlafen. Doch daraus wird wieder nichts. Erst muss ich zusammen mit meiner Mutter einen Haftungsvertrag unterzeichnen, in dem ich mich dazu verpflichte nicht an dem medizinischen Gerät zu experimentieren. Das wär doch was. Schon länger spiele ich nämlich mit dem Gedanken mein Cola intravenös einzuführen. Naja, aus dem wird wohl dann doch nix. Jetzt noch die Essensauswahl für die nächsten Tage treffen und dann bin ich fertig. Von Krankenhausessen hört man eigentlich nichts Gutes. Zu meinem Entzücken kann ich indes zwischen Gerichten wie „Broccolisuppe und gefüllte Hühnchenbrust mit Reis“  oder „Klare Bouillon und Kaiserschmarn“ auswählen. Vielleicht wird’s hier gar nicht so schlimm. Und außerdem machen die mich hier wieder gesund.

Die Essensauswahl geschafft, habe ich mir ein Nickerchen redlich verdient. Aus meinen Träumen werde ich von einem Mann gerissen, bei dem sich herausstellt, dass er der Oberarzt ist. Mit im Schlepptau hat er eine Assistenzärztin, die dem Großmeister andächtig bei seiner Arbeit zusieht. Und wieder: Same prodecure as each time. Etliche Lymphknotengrabschereien später meint Herr Dr. Schleiermann man würde mir jetzt Antibiotikum verabreichen. Anscheinend hat er plötzlich Angst er könne sich bei mir anstecken, denn er springt auf und verlässt hastig und wortlos das Zimmer, wie es Darth Vader nicht besser hätte machen können. Seine Entourage eilt mit ihm hinweg. „Ihnen auch noch einen schönen Tag“, denk ich mir, bin aber zu überrascht von seinem Abgang. Er muss bestimmt schnell woanders hin.

Um kurz vor 19 Uhr schicke ich meine Eltern dann nach Hause. Sie haben heute meinetwegen genug Krankenhausluft inhaliert. „Lasst mich zurück, was zählt ist die Mission“, sind meine letzten Worte. Man merkt an meinem Verhalten, dass es mir schon besser geht. Das Fieber hat sich gesenkt und verschwindet schlussendlich ganz. Nichts desto trotz bekomme ich alle 20 Minuten Besuch von einer Krankenschwester (sie könnte meine Zwillingsschwester sein), die meine Temperatur misst. Angeblich kommt sie deshalb. Ich fühle mich wieder wie Hugh Hefner, bleibe aber cool und lässig (so lässig wie man halt sein kann, wenn man im Krankenbett liegt). Kurz vorm Schlafen gehen klingel ich die Schwester noch einmal zu mir ins Zimmer. Keine berlusconischen Gedanken treiben mich zu dieser Tat, sondern ganz einfach die Tatsache, dass sie mich vor dem Einschlafen an ein EKG anschließt, damit die Nachtschwester merkt, wann ich tot bin. Also dann erholsame Nacht.

Schön wär’s. Die Nachtschwester ist wohl sehr besorgt, dass sie mich tatsächlich tot auffindet und so kommt sie gefühlt alle 30 Minuten in mein Zimmer und wechselt die Flüssigkeit, die mir intravenös eingeführt wird. In der Manier eines Einbrechers schleicht sie sich mit einer Taschenlampe bewaffnet in mein Zimmer. Die Taschenlampe bringt’s voll. Sie hätte wohl genauso gut das Licht einschalten können. Ich will sie aber nicht in ihren Fähigkeiten als Einbrecherin verunsichern und so spiele ich weiterhin den Schlafenden.

Die unruhige Nacht kann ich mehr oder weniger dadurch kompensieren, dass ich bis 10 Uhr ausschlafe. Meine Halsschmerzen sind schlimmer geworden, ansonsten sind die schlimmsten Beschwerden weg. Das Frühstück zwinge ich an meinen geschwollenen Mandeln vorbei irgendwie die Speiseröhre hinab. Danach will ich mich schick machen. Denn heute ist laut Programmheft der Kinderklinik Chefarztvisite. Für den Chefarzt will ich naturgemäß in bester (äußerlicher) Verfassung auftreten. So bitte ich Schwester Steffi darum mich duschen zu dürfen. Das Unterfangen, das am Vortag noch abgelehnt wurde, klappt nun. Sie stöpselt mich ab, zieht mir einen Gummihandschuh über und klebt alles ab. Wenn ich fertig sei, soll ich mich einfach melden. Die Dusche tut gut, ich fühle mich wie neu geboren. Danach wieder ab ins Bett und wieder an die Infusion angeschlossen. Steffi beichtet mir, dass die Schwestern schon alle in heller Aufregung waren und Pläne schmiedeten, wie vorzugehen sein, wenn mir beim Duschen was passiert. „Normalerweise haben wir’s hier ja nicht mir 17-jährigen Jungs zu tun“, meint sie noch. Von dem Planungseifer der Schwestern wenig beeindruck, aber doch neugierig sage ich, dass sie sowas wie bei mir bestimmt schon mal alles gesehen hätten. Sie lacht. Hab ich sie jetzt in Verlegenheit gebracht? Egal. Bevor Steffi wieder abdüst, erklärt sie mir kurz, dass die Chefarztvisite heute ausfalle. An seiner Stelle würde Oberarzt Schleiermann kommen. Na toll. Den ganzen Aufwand für nix. Für Darth Vader hätte ich mich nicht schick gemacht. Für ihn hätte ich eher noch bisschen Knoblauch gegessen, damit er viel Spaß bei der Munduntersuchung hat.

Aber immerhin macht er mich gesund. Und während ich noch meine diabolischen Pläne schmiede, betritt er schon den Raum. Er mustert mich durch seine Brille, ganz so als ob er gleich sagen wolle: „Johannes, ich bin dein Vater!“.  Aber anscheinend will er mich nicht zum Sohn, denn er fängt wieder an mit Lymphknotengrapschen und derlei Spielerei. Er meint, sie hätten nun die Dosis an Antibiotikum erhöht, weil es zuvor nicht angeschlagen hätte. Vielen Dank. „Du musst heute noch da bleiben“, sagt er beiläufig, kurz vorm Gehen. Meine gute Laune ist mit einem Schlag passe. „Aber eigentlich würde ich heute schon gerne Heim“, erwidere ich kleinlaut. Mit einem Mal bleibt der dunkle Imperator stehen. Er dreht sich um und sein Blick trifft meinen. Hätte ich doch bloß nichts gesagt. Seine Mimik verrät mir, dass er sich gerade fragt, wie ich mir so einen Affront  nur erlauben könne. „Nur gegen den ärztlichen Rat.“, lautet seine knappe Antwort. Damit ist das Thema gegessen. Ich bleibe hier.

Naja wenigstens kann ich jetzt mal entspannt was lesen. Während einer kurzen Augenschonung fällt mein Blick auf das Ende meines Bettes. In bester Kinderstationmanier ist dort mein Name angebracht. Mit einer kleinen Krone daneben. Ist das Absicht oder Zufall. Bestimmt Absicht. Ich fühle mich erhaben. Ich bin der König der Kinderstation. Für einen König besuchen mich die Schwestern aber heute ziemlich wenig. Wahrscheinlich haben sie mich schon aufgegeben.

Bild: Johannes Gansmeier

Bild: Johannes Gansmeier

Geschlagen versuche ich mich mit meinem Schicksal abzufinden, als plötzlich doch noch die Tür aufgeht. Schwester Gertrud bringt mir das Essen. „Lass dir schmecken!“. Und schon ist sie wieder weg. Gierig stürze ich mich auf das Mahl. Es stimmt doch was man über Krankenhausessen sagt. Es schmeckt nicht sonderlich gut. Aber immerhin werd ich hier gesund.

Der Nachmittag verläuft unspektakulär. Zwischen unzähligen Toilettenbesuchen (ich muss sehr viel trinken und hänge an einer Infusion), dem Besuch meiner Mutter und der Lektüre meiner Zeitungen mischt sich noch kurz der Besuch der Assistenzärztin. Nichts Neues.

Mein Magen grummelt. Ich habe Hunger und freue mich schon aufs Essen. So tief bin ich also schon gesunken. Das Essen kommt, das leere Tablett geht. Nach einem überraschenden Besuch meines Onkels gedenkt der König zu schlafen. Tag zwei der Odyssee ist vorbei.

Heute ist er gekommen. Der große Tag. Der Tag meiner Entlassung. Bis 9 Uhr ausgeschlafen, geduscht, gefrühstückt. Um 10 Uhr soll ich mein letztes intravenöses Antibiotikum bekommen. Richtig fit bin ich trotzdem noch nicht. Aber ich will nach Hause.

Schwester Heidi schließt mich ans Antibiotikum an. „Also nicht, dass es mir bei euch nicht gefallen würde“, sage ich, „aber ich freu mich trotzdem schon ziemlich, dass ich wieder Heim darf“. „Das versteh ich. Langweilig bei uns, gell?“, antwortet Heidi liebevoll. „Aber du hast bestimmt schon Nintendo Wii gespielt, oder?“. Zu ihrer Verblüffung verneine ich dies und erkläre, dass mir Lesen mehr Spaß macht, als Wii zu spielen. Ihrer Reaktion zu Folge habe ich gerade ihr Weltbild zerstört. „Was zum Teufel ist an dieser Wii so toll?“, frage ich mich. Ich versteh es nicht.

Mein Vater ist mittlerweile gekommen, um mich abzuholen. Wir müssen nur noch auf die Oberärztin warten, damit sie mich entlassen kann. Alle Papiere seien schon vorbereitet wird uns von Heidi erklärt. Jetzt wird’s intim. Auf die Frage, ob mein Internat ein spezielles sei, folgt meine Antwort „Is ne Schule für Hochbegabte“. Das hätte ich nicht sagen dürfen. Wie aus der Pistole geschossen erzählt Heidi über ihren Sohn, der überhaupt nichts für die Schule lernen müsse und trotzdem ganz gut sei. „In welche Klasse geht er denn?“, frage ich zwecks der Höflichkeit nach. „In die zweite“, ist die Antwort einer stolzen Mutter. Alles klar. Das Kind muss hochbegabt sein.

Die Zeit vergeht wie im Fluge, aber mein Vater und ich können uns bei weitem nichts besseres vorstellen, als am Samstagmittag im Krankenhaus festgehalten zu werden. Wenn’s der Sache dient. Alle 20 Minuten ruft meine besorgte Mutter meinen Vater an und fragt, wie es jetzt stehe um ihren Filius.

Die Tür geht auf, doch anstatt der Oberärztin kommt eine kleine Assistenzärztin hereinspaziert. Sie untersucht mich, weist aber darauf hin, dass sie nicht befähigt sei, mich zu entlasse. Wir müssten auf die Oberärztin warten. Sehr zur Freude meines Vaters und mir.

Die Tür geht wieder auf, Heidi kommt rein und serviert mir das letze Mahl im Krankenhaus. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass ich verarscht werde. Zum dritten Mal bekomme ich die gleiche Suppe – Nudeln mit Brühe – aber zum dritten Mal unter einem anderen Namen. Naja, runter damit.

Während sie das Tablett wieder abholt, verweist Heidi daraufhin, dass die Oberärztin gerade bei ihr angerufen hätte. Wir müssten doch nicht mehr auf sie warten, ich kann gehen. Toll, drei Stunden umsonst gewartet. Aber jetzt raus ausm Knast.

Heidi entfernt mir die Nadel aus meinem Arm und verarztet ihn fachmännisch. Der währenddessen entstehende Smalltalk führt uns zu meinen beruflichen Planungen. „In die Richtung Politik oder Wirtschaft“, ist meine wahrheitsgemäße Antwort. Ihrem Blick zufolge hätte ich das vielleicht besser nicht sagen sollen. Aber zum Glück ist die Nadel schon draußen. „Und was genau?“, meint sie. Um die Stimmung wieder etwas zu lockern antworte ich mit „Bundeskanzler“. Mein Plan geht auf, Heidi lacht. Wieso lacht sie? Das ist ernst gemeint.

Mein Vater und ich packen meine sieben Sachen zusammen und machen uns zum Aufbruch bereit. Beim Verlassen der Station zwei, bedanke ich mich bei den Schwestern für die nette Betreuung und verabschiede mich. Kurz vor dem Erreichen der Wicki-Eingangstür steckt Heidi noch einmal den Kopf aus dem Schwesternzimmer hervor und schreit mir nach: „Tschüss, Herr Bundeskanzler!“. So stell ich mir eine Verabschiedung vor. Innerlich zutiefst befriedigt geht’s jetzt nach Hause. Endlich.

Von Johannes Gansmeier

*Alle Namen der genannten Personen wurden vom Autor aus Datenschutzgründen geändert

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Quelle: derfarbfleck
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Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 29. May 2011
Kategorie: Farbflecken

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3 Kommentare zu “König der Kinderstation”

  1. Ja Krankenhausgeschichten lesen sich immer wie ein Krimi … meistens jedoch ohne Leiche. Fast schon überflüssig zu erwähnen, dass ich natürlich gute Besserung wünsche.
    Ich gehöre zu denen die nicht viel mitreden können bei sowas – nie etwas gebrochen, hab noch alle Organe beisammen und sie funktionieren, … zuweilen denkt man an solche Situationen, wie es ist, wenn sich alle um einen sorgen und kümmern. – Eben irgendwie König zu sein. Aber da fällt mir eher Damokles ein – ein ähnliches Schicksal.

    Geposted von blueyo | May 29, 2011, 21:30 | Antworten
  2. Also sehr schön geschrieben.
    Ich bin gerade auch nicht in bester Verfassung und da hat mich ein Artikel sehr erfreut.

    Geposted von Nathan | May 30, 2011, 18:19 | Antworten
  3. Aha, jetzt bin ich also auch mal im Bilde. Super Artikel – also der Schreibstil, weniger der eher unerfreuliche Inhalt ;)

    Geposted von Alejandro Gansmeier | June 21, 2011, 10:20 | Antworten

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