derfarbfleck

Farbflecken

Vertrauen

Bild: Bitman @ flickr.com

Bild: Bitman @ flickr.com

Sonnenstrahlen durchfluten mein Zimmer. Das lebhafte Zwitschern der Vögel entführt mich behutsam aus der Welt der Träume in die Realität. Es verspricht ein wundervoller Sommertag zu werden, der zweite dieses Jahr. Ich wittere Morgenluft, ich stehe auf, frühstücke so gemütlich wie ausgiebig und mache es mir in Sessel und Sonnenschein bequem. Bei all der sommerlichen Idylle, die mich hier umgibt, kommt mir der Farbfleck in den Sinn und mit ihm der sehr subtile Satz eines unserer Chefredakteure (ich weiß nicht ob er namentlich erwähnt werden möchte). „Von Dir würde ich gerne mal wieder etwas lesen“ hat er gesagt. Die implizite, höfliche Aufforderung, die dem Satz innewohnt, wäre mir beinahe entgangen.

Nun sitze ich also hier und möchte etwas für unseren Farbfleck schreiben. Es soll etwas Leichtes, etwas Anspruchsloses werden, nehme ich mir vor. Es soll den Leser in die idyllische Welt der Träume entführen. Doch daraus wird nichts, die Realität holt mich ein. Bevor die ersten Unicode Zeichen das jungfräulich weiße Worddokument beflecken können, befinde ich mich auf dem Weg in die Stadt. Auf dem Fahrrad. Natürlich auf dem Fahrrad. Das hält jung, besser als jede Anti-Aging-Creme, sagt der Doktor, auch wenn er weiß, dass mir das so egal ist, wie die Menschenrechte es den Weltmächten unserer Zeit sind. Was Schiller der betörende Duft faulender Äpfel war, ist mir das Geschmacksfeuerwerk einer italienischen Kugel Eis, rechtfertige ich meinen plötzlichen Ausflug. Ich brauche Inspiration.

Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. Wie konnte ich nur… ein solcher Anfängerfehler…

Es ist verkaufsoffener Sonntag. Verkaufsoffener Sonntag: das bedeutet eine shopping-lustige Menge, die beim Gehen schlagartig die Richtung ändert oder abrupt stehen bleibt, ohne Vorwarnung, ohne sich vorher umgedreht zu haben. Kurz: Der verkaufsoffene Sonntag ist der natürliche Todfeind des Fahrradfahrers.

Wäre ich doch nur zu Fuß. Doch jetzt ist es zu spät. Ich nehme die Herausforderung an! Ich hatte schon immer eine Vorliebe für Slalom. Man muss sich sein Eis schon verdienen, sage ich mir. Doch vor der ersten Verdienstmöglichkeit tut sich ein Abgrund auf. Bevor ich loslegen kann, schießt eine Mutter – die Rechts-vor-links-Regel völlig außer Acht lassend – mit  ihrem Kinderwagen um die Ecke und schneidet mich. Typisch Vierrädler! Nicht einmal meine nahezu-Pianisten-Finger vermögen gefühlvoll genug zu bremsen, den Crash zu vermeiden.

Ich war 9 als ich den Vierrädlern den Krieg erklärte. Damals las ich meinen ersten Shakespeare „To be, or not to be…“. Und damals lernte ich Fahrradfahren (ca.4-5 Jahre nach meinen Altersgenossen). Es war der 14.März, als ich mich das erste Mal traute, meinen kleinen Verkehrsübungsplatz, die Auffahrt unseres Hauses, zu verlassen. Ich fuhr auf die Straße und fühlte mich wie ein großer Pionier, wie ein Entdecker neuer Welten. Damals bekam ich das erste Mal einen Eindruck davon, wie sich Columbus gefühlt haben muss, als er Indien erblickte. Leider fand ich, genau wie Columbus, nicht das was ich erwartete. Ein Italiener hatte auf einer Spritztour mit seiner sizilianischen Mutter, 84,  und seinem Ferrari, rot und vier Räder, eine rote Ampel übersehen und so dafür gesorgt, dass meine erste große Entdeckung der OP-Tisch des Krankenhauses war.

Mit 9 erklärte ich den Vierrädlern den Krieg, ich grub den Klappstuhl aus. „Two wheels, or not two wheels…“ war die Frage, die mich das Leben zu stellen gelehrt hatte.

 

Jetzt, nach dem Zusammenstoß mit dem Kinderwagen (not two wheels), liege ich am Boden und sehe mich hilfesuchend um. Inzwischen hat sich eine Menschenmasse um mich gesammelt. Die wilde Meute zischt Fetzen wie „Typisch Fahrradfahrer“ und „Recht geschieht’s ihm“. Einige schwingen drohend ihre Einkaufstaschen. Da steht auch eine ältere Dame, vielleicht ist sie ja so freundlich und… Aber nein, erst jetzt sehe ich, dass sie sich auf einen Rollator stützt (not two wheels either). Auf die Hilfe eines Vierrädlers kann man nicht zählen, mehr noch: ich verzichte sogar gerne darauf.

Direkt neben der vierrädrigen Schreckschraube steht die Mutter, sie trägt ihr unversehrtes Kind im Arm, sie fasst es sicher, sie hält es warm. „Fahrradfahrer sind immer so rücksichtlos“ sagt sie mit Betonung auf „immer“ und bemerkenswert vorwurfsvollem Unterton bei „rücksichtslos“. Dabei sieht sie ihr Kleines an, obwohl sie und ich wissen, dass ihre Feststellung mir gilt. Als ich ihre Augen sehe, fühle ich mich unwillkürlich an die „Wunder Natur“-Doku von gestern Abend erinnert. Dort sah man, wie eine Löwenmutter eine Antilopenbaby zerfleischt, das ihren Nachwuchs spielerisch angestupst hatte.

Ich nehme an, dass die Mutter mich nur deshalb nicht zerfleischt, weil sie ihr Junges vor einer Gewaltszene bewahren will. Aus demselben Grund hält sie ihm wahrscheinlich die Augen zu, als Ha-Jo das erste Mal zutritt. Ha-Jo steht in der Meute, die mich umkreist. Erste Reihe. Er ist so breit wie ein Schrank – genauso viele Haare hat er auch auf dem Kopf. Seine muskulösen Oberarme sind selbstredend tätowiert und er trägt ein „I <3 Harley-Davidson (two wheels)“ Muscle Shirt. Das <3 ist rot. Blutrot. Ich glaube, Ha-Jo gehört zu der Sorte Mensch, die gerne nochmal zutritt, wenn man schon am Boden liegt. Er hat sonst nichts.

Neben ihm steht seine Freundin. Ganzkörpertätowierung, Nasen- und Zungenpiercing sowie äußerst modisches Halsband. Sie trägt schwarz. Dabei steht ihr Schwarz nicht besonders. Sie ist mehr der Typ für herbstliche Farben, finde ich. Ich liebe die Farben des Herbstes. Ich kann mich nicht entschließen, ob ich sie auf den stilistischen Mangel hinweisen soll. Ha-Jo ist so zuvorkommend, mir die Entscheidung abzunehmen. Bevor ich meinen Mund aufmachen kann, renkt sein Fuß mir den Kiefer aus. Alles andere geschieht schweigend.

Viel härter als die physische Gewalt, auf deren detaillierte Schilderung ich hier verzichten möchte, trifft mich der Verrat. Denn nichts anderes ist es, was mir Ha-Jo angetan hat.

Warum hat er nur zugetreten? Vielleicht zieht er seine gesellschaftliche Akzeptanz daraus, die rein gedankliche Gewalt der Umstehenden zu realisieren und so deren Wünsche zu erfüllen. Vielleicht ist er ein schlecht ausgebildeter Pädagoge und wollte mir meine Rücksichtslosigkeit aberziehen. Mir wäre ein eigenständiges Erarbeiten des Wertes lieber gewesen, notfalls auch Gruppenarbeit. Vielleicht handelte er aus Liebe. Vielleicht wollte er es seiner Freundin beweisen.

Was bleibt, sind Fragen: Wie konnte mein zweirädriger Verbündeter das nur tun? Kann man denn niemandem mehr vertrauen? Wirklich niemandem? Was sagt die Öffentlichkeit zu dem Vorfall? Vor meinem innere Auge zieht schon die BILD-Schlagzeile vorbei: „Harley-Biker verschlägt Fahrradfahrer“ Untertitel: „Etwas ist faul in unserer Gesellschaft!“

Endlich erwache ich aus meinem süßen Traum. Ich starre an die Decke. Ich bin schweißgebadet, aber nur ein bisschen. Draußen kämpfen sich die Sonnenstrahlen durch den sich auflösenden Nebel. Es verspricht ein wundervoller Sommertag zu werden, der dritte dieses Jahr. Ich bleibe erst mal liegen.

Von Frederik Benzing

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Quelle: derfarbfleck
Website: http://www.derfarbfleck.de/old
Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 10. May 2011
Kategorie: Farbflecken

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4 Kommentare zu “Vertrauen”

  1. Erinnert mich jetzt spontan an so Artikel die es immer mal wieder in die Taz schaffen … bei denen sich ein freischaffender Redakteur mal wieder einem frühsommerlichen-literarischen Erguss hingibt. Aber ich lese gern sowas.
    Daher weiter so – es lebe das Fahrrad!

    Geposted von blueyo | May 10, 2011, 12:45 | Antworten
  2. Super geschrieben =)
    Man wird wirklich gut ins Reich der Träume verführt.

    Geposted von SebastianFarbfleck | May 10, 2011, 16:18 | Antworten
  3. alles imaginär oder was? meine unterentwickelte interpretationsgabe lässt mich leider im stich, könnt ihr mir weiter helfen?

    Geposted von Cornelius | May 10, 2011, 22:56 | Antworten
  4. Nach den vielen politischen Artikeln endlich mal wieder was Literarisches – danke! Falls es mal ein Voting für eine Best-of-Ausgabe des Farbfleck geben sollte, kannst du auf meine Stimme zählen.

    Geposted von Stefan Münch | May 11, 2011, 00:03 | Antworten

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