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Die Welt da draußen

Wenn immer mehr immer weniger ist

Bild: mueritz@flickr.com

„Die Spaßgesellschaft entlässt ihre Kinder: Früher tat es ein Mallorca-Urlaub, heutzutage muss es schon eine Abenteuertour in den letzten Erdwinkel sein. Einst sorgte die Achterbahn für Nervenkitzel, mittlerweile langweilt sogar Bungee-Springen. Und wenn früher ein Fass Freibier zur Feier lockte, so ist nun die Mega-Super-Party das Maß aller Dinge, “ kommentierte der liberale Weser Kurier den alljährlichen Drogenbericht der Bundesregierung im Jahr 2003.

Fast genau acht Jahre sind bereits seit der Publikation dieses Drogenberichtes und damit einhergehend auch des Kommentares ins Land gegangen. Und doch scheint das in der Aussage deutlich werdende Problem, eigentlich ja eine Nachricht von vorgestern, eine ungewöhnlich beständige Aktualität zu besitzen.
Wann kann man das schon von heute tagesaktuellen Themen, morgen noch behaupten? Eine tiefer liegende Wahrheit, ist manchmal mit solch einer Eigenschaft behaftet. Ein einzelner Faden im Wollknäuel des Lebens, der erst dann seine wahre Länge offenbart, wenn der Knäuel abgewickelt wird.
So vielleicht auch hier. Denn wenn etwas über einen derartigen Zeitraum gilt, könnte es ja womöglich einen wahren Kern besitzen.
Die Quintessenz dieses Kommentares jedenfalls, war die Erkenntnis darüber, dass sich diese, unsere Gesellschaft, auf einer „rastlosen Suche nach dem Kick“ befindet und dieser Umstand eine, die zukünftige Entwicklung betreffende Richtung bedingt, die als ein mögliches Indiz einer Sucht angesehen werden kann: Maßlosigkeit.

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Eine Gesellschaft wird maßlos genannt, weil sie das Maß los ist. Normen und Werte, die als Orientierungsmarken dienen, sind verloren gegangen, die das alltägliche Leben bestimmenden Maßstäbe zunehmend krude verzerrt.
Wer in diesem Zusammenhang von „Maß“ spricht, muss wissen, dass er im gleichen Atemzug auch von Grenzen spricht. Denn ohne Grenzen kann es auch kein Maß geben. „Wir müssen immer wieder neu entscheiden, welche Grenzen wir überschreiten und welche Grenzen wir akzeptieren wollen, “ sagte der ehemalige deutsche Bundespräsident Johannes Rau in einer Rede im Jahr 2001. Die Möglichkeiten der heutigen Zeit sind so vielfältig für den Einzelnen, wie niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit und der Fortschritt der sie schafft schneller denn je. Umso schwerer fällt es deshalb eindeutige Grenzen zu ziehen, werden sie doch häufig als Beschneidung der Freiheit empfunden. Ein friedliches und gutes Miteinander und Zusammenleben, ist aber nun einmal nur dann möglich wenn die eigene Freiheit dort endet, wo die des anderen beginnt. Maßlosigkeit kann deshalb indirekt dazu führen, dass dieser Grundsatz unserer Gesellschaft im nebulösen Schleier der Nicht(be)achtung dahin vegetiert.

In fast allen Ebenen, ist sie zu finden, die Maßlosigkeit. Egal ob auf der persönlichen, der wirtschaftlichen oder der politischen. Aber besonders auf letzterer, hat ihre Anwesenheit weitreichende Folgen. Denn eine nachhaltige Entwicklung, die eines Staates Fernziel sein sollte, kann nur dann wirklich nachhaltig sein, wenn sie mit Maß geschieht.
Der Blick auf das Ganze, auf den Sinn und die Mitmenschen darf hierbei nicht verloren gehen.

Das Leben ohne Maß im persönlichen ist dagegen vor allen Dingen eine Folge des Überflusses der uns umgibt. Wir, die wir schon eigentlich alles haben, denen alles schon geboten wurde und die alles kaufen können, leben im Übermaß. Und das stumpft ab.
Immer mehr ist uns immer weniger wert.

Ist es Zufall, dass Worte wie Kleinod, aus dem Sprachgebrauch und auch aus dem Gedächtnis einer ganzen Generation verschwunden, ja förmlich getilgt wurden? Nicht nur das Wort, sondern auch das was es beschreibt, eine kleine, zierliche Kostbarkeit, die es in Muße zu genießen gilt, scheint es nicht mehr zugeben. Stattdessen ist es fast so, als sei das „höher, größer, weiter“ Prinzip der alles bestimmende Fixpunkt am Firmament der Werte geworden, nachdem sich eine ganze Gesellschaft auszurichten versuchte.

Etwas in Maßen zu genießen, sich Zeit nehmen um innezuhalten, ist in unserer so beschleunigten, sich rasend schnell entwickelnden Welt fast unmöglich geworden. Genuss und wirkliche Muße sind wahre Raritäten des Lebens geworden, auch und vor allen Dingen weil es das was sie ermöglicht nicht mehr gibt: Zeit.
Und das obwohl in vielen Dingen des Alltags, gerade beispielsweise auf dem Gebiet der Fortbewegung, Fortschritte erzielt wurden, die oftmals weit mehr waren als nur ein bloßer Quantensprung, und die ungeheure Mengen an Zeit eingespart haben. Die Strecke von Stuttgart nach Schwäbisch Gmünd beispielsweise, war noch vor rund 200 Jahren eine halbe Tagesreise.
Heute lässt sich die gleiche Distanz mit der Eisenbahn in unter einer Stunde bewältigen. Aber haben wir deswegen wirklich je mehr Zeit gehabt?
Freie Zeit wird sofort verplant, aus Angst vor der drohenden Langeweile.
Und Spaß wird das Mittel zum Zweck.

Die sich in dem Selbstverständnis vieler, schon häuslich eingerichtete Mentalität der verlorengegangenen Orientierung und somit das Abhandenkommen von denen, den  Lebenspfad einebnenden Maßen, ist somit nur eine Facette einer ganz neuen Ausrichtung einer ganzen Gesellschaft.
In den 90er Jahren des vorangegangenen Jahrhunderts, tauchte in den Feuilletons namhafter deutscher Zeitungen ein Begriff auf, der versuchte in einem Wort zum Ausdruck zu bringen, was eigentlich von so großer Tragweite ist, dass dies nur schwer möglich erscheint. Das Wort Spaßgesellschaft ward geboren.
Dabei ist „Spaß“ nicht etwas, dass erst seit ein paar Jahrzehnten Teil des gesellschaftlichen Lebens ist. Auch frühere Generationen wollten ihn schon haben. Er ist Bestandteil einer Wohlstandsgesellschaft, die der drohenden Langeweile zu entkommen versucht.

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Ein sichtbares Symptom dieses Bedürfniseses an Spaß bei wachsender Unlust an kritischer und reflektierender Ernsthaftigkeit sei die „Tendenz zur Harmlosigkeit, ja zur Verkindlichung der ganzen Gesellschaft, “ so der FAZ-Autor Holger Christmann.
„Alle wollen niedlich, lieb und lustig sein – bloß nicht erwachsen mündig und
ernst, “schreibt er weiter.

Wir leben in einer Zeit, in der es zum elementaren Lebensinhalt gehört, sich selber und die eigenen Pläne verwirklichen zu können, ohne sich dabei anstrengen zu müssen. Es reicht der Blick in das allabendliche Fernsehprogramm, in welchem Sendungen wie „Deutschland sucht den Superstar“, „X Factor“ oder „Das Supertalent“, Hochkonjunktur haben, um zu erahnen wohin die Reise geht.
Ohne Mühe zu Karriere und Geld kommen.
Was bedarf es da noch der Freude an Leistung und Arbeit?
Das Problem dabei ist: Die Gescheiten werden im großen Stil neidisch auf die Dummen.
Der kleine, qualifizierte Facharbeiter von nebenan, fristet ein einsames, graues Maus-Dasein, wobei er sich auch noch über viele Jahre hinweg mühevoll versucht hochzuarbeiten, während mach ein Unqualifizierter für zwei Wochen sein trautes Heim verlässt und in einem Container berühmt wird, horrende Summen einstreicht und dem zu guter Letzt auch noch die Herzen zahlreicher Verehrerinnen zu fliegen.

Die Spaßgesellschaft als Nährboden der Schlingpflanze Maßlosigkeit?
Ist der Spaß womöglich also die Wurzel allen Übels?
Nein. Das wahrlich ist er nicht. Nur sollte seine bestmögliche Funktion im mannigfaltigen Gefüge unseres Bewusstseins, einem sprichwörtlich bewusst werden.
Spaß ist nämlich nur dann sinnvoll, wenn er nicht der Sinn ist und nicht zu diesem wird.
Hierbei ist der Sinn nicht nur abstrakter Oberbegriff für die Realwerdung eines Lebens, das unter einer bestimmten Fragestellung und der dazugehörigen findungswilligen Antwort geführt wird, sondern gerade auch eben jener Sinn, der als das Gespür für das richtige Maß angesehen werden kann.
Wenn dieser Sinn wieder zu einem bedeutenden Richtungsweiser des Lebens wird, dann kann auch einmal wieder weniger mehr sein.

Und eines noch: Einst bekam ich den Tipp, einen guten, geistreichen, literarischen Text solle ich, um der gelungenen inhaltlichen Kohärenz die Krone aufzusetzen, mit einem Zitat enden lassen, gewissermaßen als Schmelztiegel all dessen was das da Niedergeschriebene aussagen soll.
Unter diesem Eindruck endet dieser Artikel mit dem Zitat eines 16-jährigen Schülers, der in der Shell-Studie aus dem Jahr 2004 zu Wort kommt:
„Natürlich braucht man Spaß im Leben. Aber ohne Sinn, macht das Leben weder Spaß noch Sinn.“

Von David Irion

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Quelle: derfarbfleck
Website: http://www.derfarbfleck.de/old
Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 10. April 2011
Kategorie: Die Welt da draußen

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4 Kommentare zu “Wenn immer mehr immer weniger ist”

  1. Der Artikel ist wie immer auf einem plus gutem Niveau – inhaltlich wie leserlich.

    Aber ich frage mich können wir “Spaß” mit einer Stoff-gebundenen Dopamin Ausschüttung und einem Adrenalin-Kick gleichsetzen – oder müssen wir zunächst den Begriff auch von “Glück” und “Freude” abtrennen. Muss ich nicht gar eher von einer “Lust-Gesellschaft” sprechen?

    Geposted von blueyo | April 10, 2011, 22:03 | Antworten
  2. Die für mich interessante Frage ist: Was fehlt einer Gesellschaft, die ihr Leben auf “Spaß” ausrichtet, die immer neue Reize braucht? Ist dieses Verhalten nicht auch eine Art der Betäubung, die irgendeinen grundlegenden Mangel vergessen werden lässt? Ich glaube nicht, dass es die Zeit ist, die uns fehlt, sondern eher, dass wir vor der Zeit (im Sinne von “Innehalten”) davonlaufen. Und ich vermute, dass uns das, was uns fehlt, bewusst werden könnte, wenn wir uns der Zeit stellen würden.

    Geposted von Banshee | April 12, 2011, 22:48 | Antworten
    • Das ist in der Tat eine interessante Frage, die du in deinem Kommentar aufwirfst, Banshee.
      Die Vermutung, sich der möglicherweise sogar vorhandenen Zeit nicht zu stellen teile ich. Aber genau das meine ich eigentlich auch, wenn ich in meinem Artikel davon spreche, dass freie Zeit sofort verplant wir, aus Angst vor der vermeintlich drohenden Langeweile, die ja nichts anders ist, als freie Zeit, in der einmal innegehalten werden könnte.
      Die Tatsache, dass viele Menschen keine Zeit haben, ist also auch auf ihren Umgang mit eben jener zurückzuführen.
      David Irion

      Geposted von der farbfleck | April 13, 2011, 12:18 | Antworten
  3. Der Artikel hat mir sehr gut gefallen.
    Ich denke, dass heute schon Kinder oft ihre Wünsche sofort erfüllt bekommen und dadurch z.B. die Vorfreude verloren geht. Untersuchungen zeigen, dass die Vorfreude aber wichtiger ist, als das Erleben selbst.
    Ein Beispiel aus dem Tierreich: Ein Affe bekam, nachdem eine Glocke erklang immer ein paar Rosinen. Schon beim Klang der Glocke lief ihm der Speichel, da er sich auf die Rosinen freute. Dann bekam er einmal einen Apfel nach dem Glockenklang, der ihm noch besser schmeckte. Was geschah? Er konnte sich danach nicht mehr freuen, wenn es Rosinen gab.
    Zwei Sprüche, die zum Thema passen:
    „Jeder Überfluss hat die Armut als Nebenfluss.“
    „Alles hat seine Zeit, wenn wir uns Zeit lassen. Zeit gewinnt nur der, der sich Zeit lässt.“

    Geposted von Liesel | April 22, 2011, 16:53 | Antworten

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