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Die Welt da draußen

Syrien – eine Prognose

Bild: amerune @ flickr.com

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Als in den arabischen Ländern Nordafrikas autokratische Regimes fielen, verfolgte ich das Geschehen von Anfang an mit Interesse. Doch als sich Proteste und Anfänge von Revolutionen auch auf Staaten der restlichen arabischen Welt ausbreiteten, ließ mich ein Name besonders aufhorchen: Syrien. Sollte ein Land, durch das ich noch vor gar nicht so langer Zeit mit dem Arabischkurs des LGHs gereist bin und überall mit dem Antlitz des diktatorischen Präsidenten Baschar al-Assad konfrontiert war, jetzt als nächstes auf glücklichem Weg demokratisch werden, oder aber im Chaos der Revolution versinken? Wird die schöne Altstadt Damaskus, auf dessen riesigem Basar ich noch nicht einmal vor einem Jahr Shishas und Palitücher gekauft habe, jetzt Schauplatz eines riesigen Volksaufstandes oder blutigen Straßenkämpfen? Würde das ganze relativ erfolgreich ablaufen wie in Ägypten oder in Massakern und einem offenen Bürgerkrieg ausarten, bei dem sogar der Westen militärisch interveniert, so wie in Libyen?

Mit Sicherheit beantworten kann ich diese Fragen nicht, aber ich kann versuchen, eine Prognose zu treffen und Möglichkeiten aufzuzählen, wenn man die Fakten berücksichtigt. Ein großes Faktum stellt natürlich die Geschichte Syriens dar. Stark beeinflusst wurde diese durch den israelisch-arabischen Nahostkonflikt. Nach einem schweren Verlust im Krieg 1948 war Syrien über 20 Jahre politisch sehr instabil. Nach einen zwischenzeitlichen Zusammenschluss mit Ägypten, der sich bald wieder auflöste, verschiedener Putsche und einer weiteren militärischen Niederlage gegen Israel im 6-Tage-Krieg, bei dem unter anderem auch die Golan-Höhen an Israel verloren wurden, ergriff schließlich 1970 Hafiz al-Assad, der Vater des heutigen Präsidenten mit der arabisch-nationalistisch-sozialistischen Baath-Partei die Macht und wurde als einziger Kandidat 1971 mit 99,2% der Stimmen zum Staatspräsidenten gewählt. Er etablierte ein Ein-Parteien-System, das auf der stark vergrößerten und mit Hilfe der Sowjetunion modernisierten Armee und dem riesigen Sicherheitsapparat, zu dem mehrere Geheimdienste gehören, basiert. Doch er schaffte etwas, wozu vor ihm noch keiner fähig gewesen war, er schuf Stabilität in Syrien. Jegliche Opposition wurde jedoch radikal unterdrückt. Als fundamentalistische Muslimbrüder 1982 einen Aufstand wagten, wurde dieser ohne Rücksicht auf Verluste brutalst niedergeschlagen. Ihr Zentrum, die 350.000-Einwohner-Stadt Hama wurde vom Militär unter der Führung des Bruders des Präsidenten Rifaat al-Assad mit Luftschlägen und Granatwerfern angegriffen, wobei weite Teile verwüstet wurden und bis zu 30.000 Menschen starben. Die islamische Bewegung hatte ihr Rückrat verloren, aber Rifaat al-Assad überwarf sich mit seinem Bruder, versuchte zu putschen und musste ins Exil. In den 90er Jahren begann Hafiz al-Assad mit einer vorsichtigen Öffnung, vor allem betrieb er aber einen gewaltigen Personenkult, der sich in verschiedensten Statuen und Plakaten wiederspiegelte. Sein älterer Sohn Basil al-Assad, der Leiter des Sicherheitsapparats, sollte sein Nachfolger werden, ein Hardliner ganz nach dem Geschmack seines Vaters. Seine angebliche Vorliebe für schnelle Autos wurde ihm aber 1994 zum Verhängnis, als er bei einem Autounfall mit seinem Mercedes-Benz tödlich verunglückte. Fortan wurde er als Märtyrer gehandelt, als sein Vater 2000 starb, musste sein jüngerer Bruder Baschar al-Assad einspringen. Für den in London studierten Augenarzt wurde extra die Verfassung verändert, sodass er mit seinen 34 Jahren als Präsident vereidigt werden konnte. Seine Antrittsrede war überraschend ehrlich, als er im syrischen Fernsehen offen verkündete, dass er dieses Amt eigentlich nicht übernehmen wolle, seine Familie ihn aber dazu gedrängt habe. Seitdem modernisierte er das Land in mancher Hinsicht. Beispielsweise begründete er eine Organisation, die Computer und Internet unters Volk brachte. Doch der Sicherheitsapparat blieb, Syrien befindet sich offiziell immer noch im Kriegszustand mit Israel und ironischerweise unterstützt der syrische Geheimdienst die radikalislamische Hisbollah, um den Einfluss im Libanon zu vergrößern. Trotz der extremen Überwachung, bei der sich Spitzel der Geheimdienste praktisch überall aufhalten, formte sich auch über das Internet eine Oppositionsbewegung. Als vor einer Woche erste Demonstrationen in der Stadt Deera stattfanden, kam es zu Massakern bei denen mindestens 55 Demonstranten erschossen wurden. In weiteren Eskalationen und den Demonstrationen nach dem Freitagsgebet in ganz Syrien kamen weitere Menschen zu Tode, wurden schwer verletzt und massenweise verhaftet. Gleichzeitig verspricht aber der Präsident Baschar al-Assad weitere Reformen, lässt politische Gefangene frei und gleichzeitig wieder andere Oppositionelle verhaften. Doch selbst wenn der Präsident es ernst meint, so balanciert er auf einem schmalen Seil. Denn in jeder Diktatur gibt es Leute, die vom System profitieren und um jeden Preis auf ihren Machterhalt bedacht sind und Reformen verhindern wollen, dazu gehören Militär und Geheimdienst. Sollte die Situation weiter eskalieren, würde die Armee gnadenlos weiter gegen die Opposition vorgehen, Zustände wie in Libyen sind denkbar. Reformiert der Präsident aber nicht, wäre seine vergleichsweise große Popularität im Volk gebrochen und er könnte sich nicht mehr halten. Es bleibt nur zu hoffen, dass der Präsident diese Gratwanderung schafft und die Lage für die Menschen sich friedlich zum Besseren wendet. Denn wer Modernisierung um jeden Preis verlangt, sollte vorsichtig sein. Denn Syrien grenzt an Israel, den Libanon, den Irak und an die Türkei. Was sich also niemand wünschen kann, ist noch mehr Instabilität in der Region, wo sich gerade langsam wieder Stabilität einfindet. Ein Bürgerkrieg oder sogar ein Eingreifen des Westens hätte auch wegen der diplomatischen Nähe Syriens zum Iran einen unberechenbaren und explosiven Charakter und unabsehbare Langzeitfolgen. Hoffentlich lernt Präsident al-Assad aus den blutigen Stürzen seiner nordafrikanischen Amtskollegen und reformiert das Land oder verhindert nicht einen friedlichen Umschwung, sodass sich die Lage für die Syrer verbessert, ohne dass es zu weiteren Opfern kommen muss.

Von Jakob Schiele

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Quelle: derfarbfleck
Website: http://www.derfarbfleck.de/old
Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 29. March 2011
Kategorie: Die Welt da draußen

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