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Die Welt da draußen

Epidemie in Schwaben!

Foto: Sympatexter @flickr.com

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Von Maximilian Stumpp

Ich mache mir meinen Morgenkaffee und bemerke, dass sich etwas zusammenbraut. Ich bin einen Tick mehr benebelt als ich es für gewöhnlich am Morgen bin, habe leichtes Kopfweh und meine Nase läuft.

Das sieht nicht gut aus, denke ich, setze mich an den Tisch und überfliege die Zeitungen der vergangenen zwei Wochen – die Aussicht auf ein Wochenende mit Erkältung ist nicht gerade erheiternd. Doch offenbar ist das nicht das Einzige, was zurzeit bei uns zu Hause nicht gut aussieht. Das gesamte Schwabenland ist in Gefahr, denn ein Erreger kursiert, welcher der jährlichen Grippe-Epidemie um Nichts nachsteht. Das hochinfektiöse Ãœbel hat drei Buchstaben: S21, bekannt ist Forschern auch die Mutation K21. Die Symptome sind einfach zu erkennen. Unangebrachtes Schreien in der Fußgängerzone, Störung des ästhetischen Modeempfindens durch Pins und Buttons und Verlagerung des politischen Denkens ins Rückenmark. Nein, ganz so schlimm wie die Journalisten das Problem um den Bahnhof in Stuttgart verkaufen, kann es wohl nicht sein. Der olle Stern wollte der Bevölkerung ja schon mal weismachen, seine hochkarätige Redaktion hätte Hitlers Tagebücher entdeckt. Tja, investigativer Journalismus geht wohl oft in die Hose, warum also nicht bei der Berichterstattung um Stuttgart 21? Während ich in Gedanken mit der Rationalität Vorlieb nehme, mit der ich mich normalerweise Problemen nähere, driftet mein Blick vom Frühstücksteller aus dem Fenster und ich kippe förmlich wieder aus den Latschen. Ein freundlicher Bewohner meiner Nachbarschaft – Typ: fettleibiger Hobbywalker – wackelt an unserem Haus vorbei und stellt stolz einen grünen Button auf seiner Brust zur Schau: Oben bleiben steht darauf. Naja, zwei Gramm mehr auf der Waage steigern den Kalorienverbrauch jetzt auch nicht gerade ins Unermessliche, denke ich mir bei diesem freudigem Anblick. Schließlich will der Alte schon seit einem guten Jahrzehnt seine Wampe loswerden, aber das Einzige was er bisher mit seinen Walking-Ambitionen trainiert hat, ist meine Bereitschaft zur Toleranz. Auch diesmal halte ich mich zurück und schreie bewusst nicht aus dem Fenster: “Hey Alter, zum Abnehmen musst du schon mehr als zwei Runden um den Block wackeln.” Nein, das mache ich nicht, schließlich muss ich meine Meinung nicht jeder Mitbürgerin und jedem Mitbürger lautstark mitteilen. Obwohl ich mir den Spruch auch auf ein T-Shirt drucken lassen könnte. Vielleicht wäre ja Gas geben! ein angemessener Spruch ihn auf meine politisch verzwickte Lage als kleiner Bürger und leidender Nachbar aufmerksam zu machen? Mein Nachbar ist ein Einzelfall, versuche ich mir klarzumachen. Viel mehr als Walken und Stänkern kann der nicht mehr aus seinem Leben machen. Konstruktives Denken braucht eben Zeit und Motivation und der Protest gegen Stuttgart 21 erinnert ihn bestimmt an seine weit entfernte Jugend. Ich raffe mich nach dem Frühstück aus meinem Stuhl auf und laufe gemütlich in die Stadt. Doch mit dieser Einschätzung meiner Mitbürger liege ich weit daneben. Die Epidemie ist ausgebrochen, die WHO sollte dringend informiert werden und die Bundeswehr Rettungspakete per Helikopter verteilen! Pest, Cholera, BSE und Schweinegrippe – alles kein Vergleich gegen diese Krankheit. Sie verwandelt friedlich lebende Menschen in politisch aufgeheizte Bestien, die auch noch den letzten Bürger mit ihrer Krankheit anstecken wollen. In der Fußgängerzone werde ich am K21-Infostand von einer Wulst aus Flugblättern und den Worten einer alten Ökoschrulle ausgebremst. Bei der Ausführung ihrer Argumente für die Bäume im Stadtgarten, die ich mir die ersten zwei Minuten geduldig anhören will, werde ich Zeuge, dass auch die Krankheit S21 nicht ohne Tröpfcheninfektion auskommt. Angewidert wende ich mich ab und fliehe Hals über Kopf aus dem Stadtzentrum. Oben bleiben und Oben ohne Leuchtschriften blockieren mein Blickfeld. Endlich erreiche ich das Protestschild Ortsausgang Stuttgart 21 und befinde mich wieder im politisch gemäßigteren Sektor und damit auf dem Heimweg. Ein Obdachloser sitzt mit seinem Hund am Boden. Die Zeitung, auf welcher der Hund seine Notdurft verrichtet hat, zeigt einen gestikulierenden Geisler. Plötzlich wird mir Eines klar. Ich bin wohl der Bürger, den Heiner Geisler sucht. Ich bin schließlich noch dialogfähig und nicht überzeugungssüchtig. Ich trage keine Pins.

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Quelle: derfarbfleck
Website: http://www.derfarbfleck.de/old
Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 26. November 2010
Kategorie: Die Welt da draußen

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Ein Kommentar zu “Epidemie in Schwaben!”

  1. Der Artikel ist zwar absolut mitreißend geschrieben, aber dass man dialogfähig ist, unterbindet ja nicht eine eigene Meinung zum Thema Stuttgart 21, oder?

    Geposted von LeaFrauenknecht | December 3, 2010, 14:17 | Antworten

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