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Die Leiden eines Schopenhauers – Teil 3: Ein nicht besonders kleines, rotes Buch

In den folgenden Wochen werden wir an dieser Stelle eine Serie zum Thema “Die Leiden eines Schopenhauers” publizieren. Diese von Frederik Benzig angefertigte Arbeit unter dem
Motto:”Literatur und Mathematik,” werden wir in  kommender Zeit in 4 Teilen hier auf derfarbfleck.de veröffentlichenEs ist – wie die Geschichte gezeigt hat – historisch unvermeidlich, dass die Betonung von Gemeinsamkeiten, um nicht Gleichmacherei zu sagen, zu Unterdrückung und Ungerechtigkeit führt. Da der Autor es nicht verantworten kann, Ereignisse wie den real existierenden Sozialismus heraufzubeschwören, wird er also im Folgenden das Motto „Lasst hundert Blumen des Unterschieds zwischen Literatur und Mathematik blühen“ in den Mittelpunkt rücken.

Dass es solche Blumen gibt, ist offensichtlich, denn gäbe es solche Blumen nicht, wären Literatur und Mathematik ein und dasselbe. Diese Aussage, dass Literatur und Mathematik nicht gleichzusetzen sind, führt direkt zu einem Punkt, auf den jeder mathematische Leser von Anfang an gewartet hat, nicht unbedingt aber ein literarischer Leser (die erste, kleine Blume des Unterschieds). Bei einem Text über Literatur und Mathematik muss man doch erklären, wovon man schreibt. Wie also definiert man Literatur und Mathematik?

Es handelt sich hierbei um so weit gefasste Begriffe, dass verschiedene Definitionen möglich und auch zulässig sind (für einen Mathematiker mit ausgeprägtem Bewusstsein für Eindeutigkeit fast unvorstellbar). In  diesem Text soll aber für jeden der beiden Begriffe genau eine Definition gelten. Zugegebenermaßen wird keine der beiden Definitionen einer strengen mathematischen Prüfung standhalten, aber sprachliche Begriffe lassen sich nun einmal oft nicht so klar fassen wie mathematische (und die erste, kleine Blume des Unterschieds ist nicht mehr allein auf weiter Flur).

Literatur soll nicht einfach alles Geschriebene sein, sie soll Geschriebenes bezeichnen, das vom Urheber bewusst durchdacht ist und was man als Kunst bezeichnen könnte.

Nach dieser Definition wäre zum Beispiel ein Zeitprotokoll keine Literatur, da sie wohl kaum Kunst und auch nicht durchdacht ist. Ein Artikel aus der allseits beliebten Bild-Zeitung wäre hingegen Literatur. Er ist insofern Kunst, als dass er unterhaltsam ist und er ist insofern durchdacht, als dass er versucht, eine bestimmte Meinung beim Leser hervorzurufen. Allen Literaturliebhabern und Freunden der beiden Ehrl-Könige sei zum Trost gesagt, dass die obige Definition noch eine Unterscheidung zwischen hoher und niederer Literatur zulässt.

Mathematik soll die Wissenschaft sein, die sich mit den Eigenschaften von Mengen befasst, die gewisse Grundbedingungen, sogenannte Axiome, erfüllen.

Diese beiden Definitionen bilden die Wurzeln aller Blumen des Unterschieds. „Sola stirpe“ (allein durch die Wurzel) gibt es die Blumen, ohne die Grundlage gäbe es nicht einmal die Stängel, die die Blüten tragen. Die beiden Definitionen selbst sind dagegen keine Blumen, an sich verkörpern sie keine Unterschiede, sie lassen diese lediglich erblühen.

Eine dieser Blumen lässt sich anhand Luthers Grundsatz „sola scriptura“ (allein durch die Schrift) erklären.

Ein Mathematiker verstünde Luther an dieser Stelle vermutlich völlig falsch. Wenn er sich in seinem Glauben allein auf die Schrift berufen solle, dann hieße das für ihn alles, was in der Bibel (scriptura) niedergeschrieben ist, Wort für Wort ohne Auslegung zu befolgen.

Das Bild eines Menschen, auf dem Mathematiker herumtrampeln, erzeugte wohl einen recht seltsamen Eindruck auf Außenstehende. Dabei hatte der am Boden liegende doch nur verkündigt, er sei der Weg (die Wahrheit und das Leben).

Ein Literat hätte schon bessere Chancen, Luther zu verstehen. Er legte die Bibel aus, dabei beriefe er sich aber immer auf die Bibel und erfände nicht frei. Sie würden nicht auf Jesus herumtrampeln, sondern eher seinen Ratschlägen folgen.

Dieser Unterschied liegt nicht unbedingt an verschiedenen Glaubensauffassungen der beiden Gruppen, sondern eher daran, dass Mathematiker sehr auf Klarheit fixiert sind und Literaten verschiedene Interpretationen zulassen. In mathematischen Texten muss alles eindeutig und unmissverständlich sein. Jeder Begriff muss genau definiert und jede Folgerung logisch makellos erklärt sein. Zwischen den Zeilen ist nur das Weiße des Blattes, sonst nichts. In der Literatur kommt es dagegen manchmal darauf an, zwischen den Zeilen mehr als das Weiß des Blattes zu sehen. Man sucht nach Symbolen und Anspielungen, nach Bedeutungen die über den Text an sich hinausgehen oder nach sprachlichen Mitteln, mit denen der Autor bestimmte Wirkungen zu erzielen versucht, wie beispielsweise eine Personifikation, die menschliche Eigenschaften auf eine Sache überträgt. Allerdings sollte man sich doch immer auf den Text berufen und nicht allzu sehr ins Phantastische abgleiten.

Eines der Ziele dieses Textes ist es, beide Seiten mit einander zu vereinen. Am Beispiel Frankreichs und Deutschlands erkennt man, dass dies einiges erleichtert und sinnvoll ist. Deshalb werden nun auch die positiven Seiten der beiden Facetten der Blume aufgezeigt: Die mathematische Klarheit vermeidet Missverständnisse, ist sehr objektiv und bringt unumstößliche Wahrheiten hervor. Ließe man allerdings nur sie walten, so nähme man der Literatur einen großen Teil ihrer Vielschichtigkeit, ihres Unterhaltungswertes und nicht zuletzt ein probates Mittel, sich der Zensur zu entziehen. Auch wenn dies zu unserer Zeit und in unserem Kulturkreis nicht mehr aktuell ist, sollte man sich vor Augen halten, dass die Literatur zu Zeiten der Unterdrückung einen wichtigen Beitrag zu einem Umsturz leisten kann und dass dies während des Zeitalters der Aufklärung bereits geschehen ist.

Es gibt eine weitere Blume, die sich ihren Hauptstängel mit der obigen teilt.  Die Mathematik ist wohl die objektivste aller Wissenschaften. Man geht von bestimmten Dingen aus und folgert logisch nachvollziehbar Konklusionen. Was man persönlich vermutet, ist wert- und belanglos, solange es nicht bewiesen und somit objektiv verifiziert wurde. Im Gegensatz hierzu ist die Literatur nie vollkommen objektiv. Sie beruht immer auf subjektiven Erfahrungen und Empfindungen. Wenn ein Autor etwa durch seine Beschreibungen menschlichen Innenlebens brilliert, dann hat er als Subjekt ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen und analysiert das menschliche Verhalten sehr gut. Aber auch bei einer sachlichen Erörterung hat das Subjekt einen Einfluss. Von ihm nämlich hängt es ab, welche Argumente ihm überhaupt in den Sinn kommen und welche es dann auch im Text verarbeitet. Ganz im Sinne Kants lässt sich sagen: Das Subjekt bestimmt das Objekt.

Das Objekt der Subjektivitäts-Blume treibt noch eine weitere Blüte. Während sich ein Schriftsteller in jedem seiner Werke ein Stück weit selbst verwirklicht, verliert sich die Persönlichkeit eines Mathematikers in der Objektivität der von ihm gewonnenen Erkenntnis. Es ist ein Vertrauensbeweis, jemanden die selbst verfassten Gedichte lesen zu lassen, da sie einiges über die eigenen Emotionen aussagen können. Wenn man aber jemandem seinen mathematischen Beweis erklärt, dann lässt sich daraus nur ablesen, dass man sich mit Mathematik beschäftigt. Wie viel das wiederum über die Persönlichkeit preisgibt, sei dahingestellt.

Über die erste Blüte lässt sich festhalten, dass man sich manchmal etwas mehr Objektivität wünscht, nicht zuletzt dort, wo eine Unterscheidung zwischen hoher und niederer Literatur notwendig ist, und dass objektive Erkenntnis oft erstrebenswert ist. Allerdings gingen auch viele Facetten unseres Lebens verloren, wenn es keine subjektiven Meinungen und Auffassungen mehr gäbe. Außerdem lässt sich auf einige Fragen gar keine objektive Antwort geben. Auch wenn es sehr abgenutzt ist, soll an dieser Stelle das Beispiel „Gibt es Gott?“ aufgeführt werden, weil es ein sehr gutes ist. Wem das nicht gefällt, dem sei mit anderen Beispielen wie Moral oder der Frage nach Schönheit über seinen Gram hinweggeholfen.


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Quelle: derfarbfleck
Website: http://www.derfarbfleck.de/old
Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 28. July 2010
Kategorie: Farbflecken

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