derfarbfleck

Farbflecken

Die Leiden eines Schopenhauers – Teil 2: Eine Basis für gegenseitiges Verständnis

In den folgenden Wochen werden wir an dieser Stelle eine Serie zum Thema “Die Leiden eines Schopenhauers” publizieren. Diese von Frederik Benzig angefertigte Arbeit unter dem Motto:”Literatur und Mathematik,” werden wir in  kommender Zeit in 4 Teilen hier auf derfarbfleck.de veröffentlichen. Nun also Teil 2.

So weit dazu, wie sich Mathematiker und Literat im Extremfall zueinander verhielten. Aber das Frankreich um 1800 existiert nicht mehr und inzwischen sind wir alle aufgeklärt, besonnen und pazifistisch (der Aufklärung können übrigens beide Seiten etwas abgewinnen: Literaten, weil beispielsweise die „contes philosophiques“ zur höheren Literatur zählen; Mathematiker, da Philosophen, wie etwa Kant, (nahezu) mathematisch klar argumentierten und die Aussöhnung Frankreichs und Deutschlands ist inzwischen mehr als eine tägliche Illusion, für die wir beten. Daher kommt es bekanntlich nie zu solch verblendeten und intoleranten Ansichten, wie sie eben wiedergegeben wurden. Falls sich dennoch jemand finden lassen sollte, der einen derartigen Standpunkt vertritt, so soll ihm nun die Grundlage für solches Gedankengut genommen werden.

Da mathematische Argumentationen nun einmal als objektiv und allgemeingültig gelten, wird dies nun mit mathematischer Denkweise – in Form eines Widerspruchsbeweises – getan: Die eingangs genannten Standpunkte gehen davon aus, dass Literatur und Mathematik komplementär sind. Das wiederum setzt voraus, dass die beiden Gebiete keine gemeinsamen Eigenschaften haben (denn sonst könnten sie keine absoluten Gegenteile sein). Davon kann man aber nicht ausgehen, wie im Folgenden durch einige Beispiele gezeigt wird.

Sowohl Literaten als auch Mathematiker besitzen einen Sinn für Schönheit und Ästhetik; bei ersteren ist das offensichtlich, bei letzteren manifestiert er sich in einer Umfrage der Zeitschrift „The Mathematical Intelligencer“ nach dem schönsten mathematischen Satz.

Darüber hinaus ist Klarheit für Literatur und Mathematik von großer Bedeutung.

Bei der Literatur ist diese Klarheit nicht unbedingt dem Text, aber doch der hinter dem Text stehenden Gedankenstruktur immanent. So lässt Eugène Ionesco in einigen Äußerungen seiner Anti-Stücke zwar Sinn und Klarheit vermissen, nichtsdestotrotz fundiert sein absurdes Theater auf dem recht klaren Gedanken, dass das „Streben nach Natürlichkeit“ aufzugeben sei.

In der Mathematik ist die Klarheit allgegenwärtig, sie muss sich in jedem Beweis und jeder Aussage wiederfinden. Sie durchdringt die Mathematik so weit, dass jede Bezeichnung definiert und deren Bedeutung eindeutig sein muss. Ist dies nicht der Fall, so sind reine Mathematiker laut Blaise Pascal (einem nicht ganz „normalen“ Menschen) beschränkt und unerträglich.

Beide Disziplinen teilen außerdem eine weitere Eigenschaft: Um das jeweilige Fach angemessen betreiben zu können, benötigt man ein ausgeprägtes Abstraktionsvermögen.

In der Mathematik ist dies besonders offensichtlich. Jeder, der sich  schon einmal in Ausrufe wie „Wozu muss ich denn später mal differenzieren können?“ hineinsteigerte, während er sich erfolglos mit einer Ableitung herumschlug, hat zweifelsohne schon Bekanntschaft mit der Anschaulichkeit der Mathematik gemacht.

Aber auch die Literatur lebt in nicht unbeträchtlichem Maße von Abstraktion, mehr als man denkt. Immer wenn man ein Symbol oder eine Metapher verwendet, abstrahiert man die wesentlichen Eigenschaften einer Sache und stellt sie durch Bilder, denen man dieselben Eigenschaften wie de eigentlichen Objekt zuschreibt, dar. Und was wäre ein Großteil der Literatur schon ohne Symbolik? Man denke nur an gesellschafts- oder politikkritische Werke. In kaum einen solchen Werk wird die Kritik ganz direkt geübt, das wäre zu uninteressant. In den allermeisten Fällen bedient man sich der Symbolik. So bedient sich Goethe in seinem Theaterstück „Götz von Berlichingen“ des Ritters als Symbol für die alte Rechtsordnung, das konnte er nur dank seiner Abstraktionsgabe.

Selbst die Genres, die rein deskriptiv sind und auf guter Beobachtungsgabe aufbauen,  beruhen auf Abstraktion. Denn möchte der Autor nicht jedes Objekt einzeln beschreiben, so muss er verallgemeinern – und sich dabei auf Abstraktion stützen.

Dem einen oder anderen Literaten kam vielleicht bei der obigen Aufzählung von mathematisch-literarischen Gemeinsamkeiten eine Eigenschaft in den Sinn, die er nur seinem Fach zuschreibt und die dieses von der Mathematik abhebt. Diese Eigenschaft könnten Mathematiker doch gar nicht haben. Nachdem aber die Mathematiker schon ein Merkmal, von dem sie glaubten, dass es ihnen – und nur ihnen – ureigen wäre, an die Literatur abtreten mussten, ist es nun an den Literaten, sich von einer Illusion zu verabschieden. Nachdem also das Abstraktionsvermögen zu Vermittlungszwecken herangezogen wurde, bleibt auch die Kreativität und die damit verbundene Phantasie nicht unbehelligt.

Dass Literaten Kreativität und Phantasie benötigen, braucht man eigentlich überhaupt nicht zu erwähnen. Jede Erzählung, jedes Gedicht, jede Erörterung wäre ohne Kreativität ungeschrieben geblieben. All das, was ein Autor kreiert, sei es eine phantastische Erzählung oder eine Erörterung, die neue Aspekte zu einem Thema herausarbeitet, all das wäre ohne Schaffenskraft unmöglich. Selbst bei nüchternen Berichten ist Kreativität am Werk, da es wichtig ist, den Sacherverhalt in angemessener Sprache wiederzugeben. Einen Text selbst und frei zu verfassen und eine Idee in eigenen Worten wiederzugeben, erfordert stets Kreativität. Ohne Phantasie gäbe es keinerlei fiktive Geschichten und auch einfache Nacherzählungen wären sehr trocken, da man ohne Phantasie nur reine Äußerlichkeiten beschreiben könnte. Alles nur mit etwas Phantasie vorstellbare Unsichtbare und Innere würde keinen Text bereichern. Da man das bei der Literatur aber eigentlich gar nicht erwähnen muss, kommen wir nun zur Mathematik. Hierfür machen wir einen kleinen Umweg über einen etwas unvernünftigen Philosophen.

Arthur Schopenhauer, irrationalistischer Philosoph (er glaubte nicht an ein vernünftiges Prinzip, welches allem zu Grunde liegt), kritisierte vieles an der Mathematik, unter Anderem, dass sie nicht erkläre, warum Dinge so sind, wie sie sind. Er fragte sich, woher die Hilfslinien stammen, die man beispielsweise beim Beweis des Satzes des Pythagoras verwendet. Er fragte sich, warum diese Linien eingezeichnet werden.

Hier endet der Exkurs auch schon wieder und die Antwort auf die Frage „warum“ ist natürlich „Kreativität und Phantasie“ (am Rande sei erwähnt, dass Schopenhauer ohne diese Kreativität gar nicht zur Kritik an der Mathematik im Stande gewesen wäre). In den Beweisideen der Mathematiker, die wohlgemerkt nicht vom Himmel fallen, steckt in aller Regel eine große Kreativität, da für den Beweis oftmals Konstruktionen benutzt werden, die auf den ersten Blick nichts mit der zu beweisenden Aussage gemein haben. Es erfordert ein nicht unbeträchtliches Maß an Phantasie, in abstrakten Thesen Beweisvarianten zu sehen oder abstrakte Gebilde miteinander zu kombinieren.

Um zu zeigen, dass Philosophie und Mathematik sich auch vertragen können und um die obige These durch die Aussage eines wahren Mathematikers zu unterstreichen, dem man den Sachverstand keinesfalls aberkennen kann, kommt nun der Mathematiker und Philosoph Jean-Baptist le Rond d’Alembert zu Wort: „Die Phantasie arbeitet in einem schöpferischen Mathematiker nicht weniger als in einem erfinderischen Dichter.“

Dieser QR-Code enthält den Link zum Online-Artikel
Quelle: derfarbfleck
Website: http://www.derfarbfleck.de/old
Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 20. July 2010
Kategorie: Farbflecken

Der Artikel ist urheberrechtlich geschützt und darf nur zu privaten Zwecken weiterverwertet werden. Jede andere Verwendung bedarf der schriftlichen Genehmigung des Autors. Für Leserbriefe nutzen Sie bitte die Kommentarfunktion unterhalb des Online-Artikels.

Keine Kommentare bisher zu “Die Leiden eines Schopenhauers – Teil 2: Eine Basis für gegenseitiges Verständnis”

Lass einen Kommentar da