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Die Welt da draußen

“Klarmachen zum ändern!”: Der Bundesparteitag der Piraten

Ein Erfahrungsbericht  gh hg g vvon Hanna Harsch

Basisdemokratie für Anfänger

“Resumée des Tages: Haben wir eigentlich irgendwas gemacht?”

Basisdemokratie bedeutet, dass Entscheidungen von der Basis in direkter Demokratie getroffen werden, nicht von Delegierten oder Repräsentanten. Die Piratenpartei bekennt sich zu diesem Konzept. Das bedeutet unter anderem, dass jeder zu den Parteitagen kommen und dort abstimmen und wählen kann, ob einfaches Mitglied, Vorstand oder Mitarbeiter in einer der vielen AGs. Man muss dafür nichts anderes tun, als Mitglied sein. In der Realität sieht es dann so aus, dass für den diesjährigen Bundesparteitag in Bingen am Rhein am 15.und 16.Mai fast 10% aller Piraten angereist sind. Das sind ungefähr 1000.
Letztes Jahr waren es nur 300, im Jahr davor 60. Das heißt das vermutlich mindestens 700 Piraten zum ersten Mal auf einem Bundesparteitag sind. Viele von ihnen waren weder auf einem Landes- noch Bezirksparteitag. Das heißt, viele sind total unerfahren.

Nerven mit unsinnigen und aussichtslosen Anträgen, können nicht abschätzen, ob ein Antrag angenommen werden wird, haben Probleme Fragen verständlich zu formulieren und sehr viele haben sich nicht vorbereitet. Wenn aber basisdemokratisch entschieden werden soll, wäre es für jeden sinnvoll sich vorher anzuschauen, über was er abstimmt, viele Fragen und Diskussionen wären uns erspart geblieben, hätten das alle erkannt. So jedenfalls erinnert die Versammlung an ein Geduldsspiel.
Der größte Teil der Zeit geht für GO-Anträge drauf. Das sind Geschäftsordnungsanträge. Dazu zählen unter anderem Schließung der Rednerliste, Begrenzung der Rednerzeit, Änderung der Tagesordnung. Wenn also irgend jemandem irgendetwas nicht passt, kann er einen dieser Anträge stellen. Dazu hebt er beide Arme. Dann darf er den Antrag formulieren und begründen. Danach fragt der Versammlungsleiter, ob es Gegenrede gibt. Ist das nicht der Fall, ist der Antrag angenommen. Ist jemand nicht mit dem Antrag einverstanden, so kann er das in einer Gegenrede ausdrücken. Dabei hat er 2 Möglichkeiten. Entweder er wählt die formale Gegenrede, dazu muss er nur seine Stimmkarte heben und darf nichts sagen. Dies ist zum Beispiel bei Antrag auf Schließung der Rednerliste oder Begrenzung der Redezeit eine häufig gewählte Form. Die andere Möglichkeit ist die begründete Gegenrede. Da darf der Pirat zum Mikro gehen und Begründen, warum er die Ablehnung des Antrages für richtig hält. Gibt es  also eine Gegenrede, egal ob begründet oder formal, so wird über den Antrag abgestimmt. Außer jemand stellt einen Alternativantrag, aber das würde hier jetzt zu weit führen.
Abgestimmt wird immer durch Handzeichen, sprich hochhalten der Stimmkarte, die jeder stimmberechtigte Pirat am Anfang bei der Akkreditierung bekam, es sei denn, es wird eine geheime Abstimmung beantragt.

Wegen solcher GO-Anträge haben wir am Samstag morgen fast ausschließlich den Bundesparteitag organisiert. Der war in dieser Zeit fast ausschließlich Selbstzweck. Wahl von Versammlungsleitern, Wahlleiter, Wahlhelfer, GO-Anträge.
Samstag Nachmittag und Sonntag Morgen werden hauptsächlich damit zugebracht, den Tätigkeitsbericht des Vorstandes zu höhren, über Satzungsänderungsanträge abzustimmen, die Zusammensetzung und Arbeit von Vorstand und Schiedsgericht regeln, dann diese Parteiorgane zu wählen und natürlich wieder über massenweise GO-Anträge abzustimmen. Die Wahl erfolgt per Zustimmung. Jeder Pirat kann so viele Stimmen verteilen, wie es Kandidaten gibt. Doch für jeden höchstens eine. Der Kandidat mit den meisten Stimmen hat die Wahl gewonnen, vorrausgesetzt, mindestens 50% derer, die tatsächlich gewählt haben, haben ihm eine Stimme gegeben.
Die Vorstellung der Kandidaten dauert nahezu ewig, da natürlich jeder Fragen stellen darf. Und ganz schön viele Piraten haben Fragen. Wenn die Rednerliste geschlossen wird, stehen meist noch zehn oder gar fünfzehn Piraten an den Mikrophonen. Eine sehr zeitaufwändige Prozedur, auch wenn die Rednerzeit auf 30 Sekunden begrenzt ist.
Am Ende der Versammlung wird noch schnell beschlossen, am nächsten Tag eine Stunde früher als geplant anzufangen.
Am Samstag Abend waren Jens Seipenbusch (Vorstandsvorsitzender), Andreas Popp (stellv. Vorstandsvorsitzender) und Bernd Schlömer (Schatzmeister) wiedergewählt. Resumée des Tages: Haben wir eigentlich irgendwas gemacht?
Auf dem eigens dafür gemieteten Partyboot kann noch eine Rheinrundfahrt gemacht werden, oder auf dem Campingplatz gegrillt werden. Die Stimmung ist trotz unerreichter Ziele gut und ausgelassen. Die Musik übertrifft alle Erwartungen und alle genießen die Auszeit.
Der Sonntag zieht sich. Nachdem die Beisitzer für den Vorstand und das Schiedsgericht gewählt wurden, ist es schon Nachmittag. In den letzten 2 Stunden wird dann tatsächlich auch noch inhaltlich gearbeitet. Der Bundesweite Einsatz von liquid feedback als Tool zum Einholen von Meinungsbildern, der Beitritt zur Pirate Party International und so manch anderes wird beschlossen.
Vor allem wichtig: das Abhalten eines zeitnahen, außerordentlichen, programmatischen Bundesparteitages, indem die restlichen der über 300 Anträge behandelt werden sollen.
Fazit: Wenn man mit 1000 Piraten, von denen viele politisch unerfahren sind, versucht, einen Bundesparteitag abzuhalten, sollte man es auf 2 Wochen ansetzen, oder man muss in Kauf nehmen, dass es mehr ein Piratentreffen mit Vorstandswahlen wird.
Ich jedenfalls freu mich auf die programmatische Arbeit am nächsten Parteitag, hab viele nette Piraten kennengelernt und hatte jede Menge Spaß. Ein wenig produktiver hätte es für meinen Geschmack aber ruhig sein dürfen.

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Quelle: derfarbfleck
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Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 19. May 2010
Kategorie: Die Welt da draußen

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Ein Kommentar zu ““Klarmachen zum ändern!”: Der Bundesparteitag der Piraten”

  1. Basisbürokratie eben :P

    Geposted von ihavenoname | May 20, 2010, 19:45 | Antworten

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