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Die Welt da draußen

Reportage: Enthaltsamkeit oder freches Rumvögeln

von Juliane

Was unsere Generation von Monogamie, Ehe und Familie hält.
Eine Reportage über das Sexualverhalten im Wandel der Zeit anhand einer kritischen Schrift aus dem Jahr 1930.

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In grauer Vorzeit: 1930: Dr. Wilhelm Reich klärt auf. Nach Marx. Über die Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit und die Ehemoral.

Zur Jugend unserer Eltern: 1968: Das Jahr der Revolution: Mediengesteuerte Massenliberalisierung oder freie Liebe mit Blumen im Haar?

Und wir heute? Die neue Unübersichtlichkeit

Als meine Freundin sagte, sie wolle keinen Sex vor der Ehe haben, gab es viele komische Blicke. „Wie uncool.“, sagten die einen. „Wie krank.“, die anderen. Zustimmung gab es in unserer Gruppe keine. Schon seit längerer Zeit sind Jugendliche, die keinen Sex vor der Ehe haben möchten, Sonderlinge. Ihre außergewöhnlich gewordene Einstellung macht sie besonders. Wer, außer dem Papst, proklamiert heute schon noch Enthaltsamkeit? Ist doch lächerlich! In unserer Gesellschaft wird so offen wie noch nie über Sexualität gesprochen, gleichzeitig gibt es unendlich verschiedene Vorstellungen davon. Das Wort Toleranz wird dabei ganz groß geschrieben. Man kann derzeit also nicht von einer einheitlichen Moral zum Thema Sex reden.

Mutter, Vater, Kind und Gartenzwerg sind out.

Wenn es um Monogamie geht, sieht es schon etwas anders aus. Fremdgeher und Betrüger sind nach wie vor gesellschaftlich missachtet. Treue und Ehrlichkeit sind und bleiben auch in unserer Generation wichtig. Eine Scheidung hingegen, oder ein uneheliches Kind, finden in der breiten Öffentlichkeit kaum noch Anstoß. Dies mag wohl vor allem an dem starken Zuwachs von Scheidungen liegen. „Leben deine Eltern zusammen?“ kommt in der Fragehierachie beim Kennenlernen gleich nach „Hast du Geschwister?“. Kein Wunder, mag man denken, dass es in Deutschland auch immer weniger Kinder gibt. Wenn wir Familie nicht richtig vor gelebt bekommen, wie sollen wir dann selbst daran Gefallen finden? Doch weit gefehlt! Der Anteil an Jugendlichen, der angibt „Man braucht eine Familie zum Glück“ ist so hoch wie seit der Datenerhebung noch nie, über 70% aller Befragten sind dieser Meinung. (Quelle: Datenreport 2008). Die Tendenz ist also eindeutig wieder in Richtung Familie. Allerdings nicht in der traditionellen Form, wie sie lange Zeit gelebt wurde. Vater, Mutter, Kind und Gartenzwerg sind out. Stattdessen gibt es viele unverheiratete Eltern, Alleinerziehende und inzwischen auch mehr und mehr gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften.

Es bleibt also zusammenzufassen: Die traditionelle Ehe findet zwar immer weniger Anhänger, Familie, wie auch immer sie aussieht, ist aber wieder im Trend. Der von unseren Eltern und den Medien beklagte Werteverfall ist hier nicht sichtbar, im Gegenteil. Wie aber sah es bei ihrer Jugend aus? Was war während der Jugend unserer Eltern in Diskussion?

Die 68er – Jeder mit jedem. Überall.

Bei den 68er denke ich an freie Liebe mit Blumen im Haar. Dazu kommen mir bunte Hippiebusse und Friedensdemonstrationen in den Sinn. In diesem Jahr erschien das Buch mit dem imposanten Titel „Kritik der bürgerlichen Sexualreform“ als Raubdruck der Ausgabe des Münster-Verlags von 1930 (Quelle: Deutsche Nationalbibliothek). Es ist schon ziemlich vergilbt, das, was vom Umschlag noch übrig ist, lässt die rote Farbe, die er mal hatte, auch nur noch erahnen. Ich habe es bei uns in der Bibliothek gefunden und bin wegen des seltsamen Titels daran hängen geblieben. Dr. Wilhelm Reich referiert darin über die Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit und die Ehemoral. Der Autor ist ein Psychoanalytiker und Sexualforscher, er starb 1957 im Gefängnis. Doch seine Schriften wurden werden noch heute gelesen. Besonders in den 60ern spielten sie eine größere Rolle. Aber halt – Enthaltsamkeit und traditionelle Ehemoral in den 68er? In einer Zeit in der Kommune 1 gerade für Aufstand gesorgt hatte und die Gesellschaft von innen heraus revolutionieren wollte, in der die freie Sexualität und die Feminismus groß im Kommen waren, in dieser Zeit erschien erneut Dr. Reichs  „revolutionäre Schrift“, mit der er die Revolution gegen die konservative Sexualreform unterstützt.

Keiner will sie, doch die Ehe bleibt.

Die Sexualreform, über die er schreibt, will „Mißstände im gesellschaftlichen sexuellen Sein beseitigen.“ (Seite 3) Eine Reform also, die, wie alle Reformen, die Dinge verbessern will. In diesem Fall das Sexualverhalten der Gesellschaft, vieleicht auch die Gesellschaft in den 60ern? Dr. Wilhelm Reich zitiert im Laufe seines Buches wild selbst- oder von ihm ernannte „Sexualreformer“, die er alle widerlegt. Die Sexualreform unterdrücke die Frauen, mache sie abhängig. Sie unterdrücke den ganzen Menschen, verbiete das Ausleben seiner Triebe. Er deckt mir ungeheuerliche Zusammenhänge zwischen den ökonomischen Verhältnissen, der Psychologie und dem Sexualverhalten auf. Letztlich Schuld an allem ist die herrschende Klasse, die durch die Aufrechterhaltung der traditionellen Werte die bürgerliche Mitte unterdrücken und somit ihre Macht sichern will. Er wurde in den 60ern von den Medien als „Vater der sexuellen Revolution“ stilisiert, seine Anhänger sehen ihn darin jedoch fehlinterpretiert: Reich wollte die sexuelle Selbstbestimmung des Menschen erreichen, die sich wohl kaum mit der mediengesteuerten Massenliberalisierung zur Zeiten unserer Eltern in Einklang bringen lässt. Selbst für die heutige Zeit hat er sehr progressive Ansichten, denn wie bereits erwähnt ist die Monogamie in unsere westlichen Gesellschaft immer noch eine weit verbreitete Wertevorstellung. Er bezeichnet es jedoch als eine Theorie der monogamen Veranlagung des Menschen, die von „biologischen und physiologischen Tatsachen erschüttert, jämmerlich zusammenbräche“. (Seite 20)

“ Die monogame Ideologie erweist sich so beim Einzelnen als mächtige reaktive Schutzorganisation gegen die eigenen sexuellen Tendenzen, die den Gegensatz Monogamie-Polygamie oder -andrie nicht kennen, sondern nur Befriedigung.” (S.166)

Der Ehekonflikt wird im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung unlösbar, weil einerseits der Sexualtrieb sich nicht mehr länger mit der ihm aufgezwungenen Sexualreform abfindet, andererseits die materielle Daseinsweise der Frau und der Kinder die Aufrechterhaltung der Eheform notwendig macht.“ (Seite 176)

Es gibt da ja aber noch die Kirche.

Wenn gleich sie für unsere Generation an Wichtigkeit als Moralinstanz anzunehmen scheint, spielte sie zur Zeit der Kindheit und Jugend unsere Eltern eine größere Rolle. Und die Kirche, die übrigens nach Reich nur zur Verdummung der Masse genutzt wird, steht eindeutig für die traditionelle und selbstverständlich monogame Ehe. Ein weiteres Kapitel widmet er uns, nämlich den Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren. Wie sieht das Sexualleben der Jugend wirklich aus, lautet eine auch zentrale Frage. (Seite 83)

„Wie sieht das Geschlechtsleben der Jugendlichen in Wirklichkeit aus? Sicher nicht so, wie es die Moral fordert.“ (Seite 86)

Was ich da lese, das könnte, in einfacherer Sprache, auch heute geschrieben worden sein. Es gibt einen Konflikt zwischen den Ansprüchen an die Jugendlichen und dem was sie selbst wollen. Allerdings haben wir heute zum Glück eine andere Ausgangssituation. Wie bereits eingangs erwähnt ist Sex vor der Ehe in großen Teilen der Gesellschaft akzeptiert. Die „bürgerliche Gesellschaft“ zurzeit unsere Eltern aber fordert unbedingte Keuschheit vor der Eheschließung, Geschlechtsverkehr senke sogar die Leistungsfähigkeit von Jugendlichen. Was dann kommt, macht mich stutzig. „Abstinenz“ gebe es allenfalls in bei schwer Neurotischen oder Gehemmten. Ich schlage noch mal ein paar Seiten zurück und versichere mich, dass es hier um die Jugendlichen zwischen 14 und 18 geht. Damals wie heute gibt es dazu zu wenig repräsentative Umfragen, als dass man diesbezüglich ein Gesamtbild erstellen könnte und vielleicht lehne ich mich zu weit aus dem Fenster, aber: Weder in den 30ern, in den 68er noch heute sind Jugendliche, die „mit Sex noch nichts am Hut haben“, wie meine Freundin es formulierte, schwer neurotisch oder gehemmt. Die Tatsache, dass es für unsere Generation keinen einheitlichen moralischen Orientierungsrahmen gibt, führt dazu, dass es alle Vorstellungen und Verhaltensweisen gibt, Mauerblümchen und Straßenschlampe stehen dicht an dicht. Wer sich dafür entscheidet mit dem Sex bis zur Ehe zu warten, trifft diese Entscheidung für sich. Auch wenn wir die Entwicklung, die die Werte in unsere Gesellschaft in den letzten 40-50 Jahren genommen haben mit Sicherheit nicht ihm allein zu verdanken haben, stellt sein Buch und die darin präsentierten Meinungen wunderbar die Zeit des Wandels dar. Wir sind uns darüber heute nicht mehr darüber im Klaren, wie schnell sich die Moral verändert und den liberaleren Lebensverhältnissen angepasst hat. Denn jemand, der heute sexuelle Enthaltsamkeit predigt, ist im besten Fall katholischer Pfarrer. Er wird allerdings nicht auf offene Ohren stoßen, weder in unserer, noch in der Generation unserer Eltern.

Alle Zitate sind entnommen aus „Die Kritik der bürgerlichen Sexualreform“ von Dr. Wilhelm Reich. Die Seitenangaben beziehen sich auf die Ausgabe der Underground Press, Berlin 1968.

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Quelle: derfarbfleck
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Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 31. March 2010
Kategorie: Die Welt da draußen

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2 Kommentare zu “Reportage: Enthaltsamkeit oder freches Rumvögeln”

  1. Hallo Juliane Goetzke!
    Wilhelm Reich ist sicher einer der wichtigsten Autoren zum Thema Sexualität. Ich konnte Ihren Argumenten nicht imer folgen, aber es war spannend sie zu lesen.

    Ihre historische Betrachtung hat nur einen Haken: Sie schreiben, dass Reich 1968 den Text geschrieben hat. Es stimmt, dass dieser Text zu dieser Zeit gern gelesen wurde, aber Reich war zu diesem Zeitpunkt schon über 10 Jahre tot. Der Text selbst war zu diesem Zeitpunkt schon über 30 Jahre alt.

    viele Grüße
    Ingo Diedrich

    Geposted von idiedrich | April 6, 2010, 09:54 | Antworten
    • Vielen Dank für Ihren Hinweis, ich habe den Artikel dahingehend korrigiert.
      Viele Grüße, Juliane

      Geposted von julianefarbfleck | April 6, 2010, 11:23 | Antworten

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