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Die Welt da draußen

Kein blauer Himmel

Foto: Deutsche Bundespost

Von Rebekka Hammelsbeck

Noch mehr Amsterdam: Zu Besuch im Anne-Frank-Haus.
Wie fühlt es sich an, durch das Hinterhaus zu laufen, in dem sich vor über sechzig Jahren Anne Frank mit ihrer Familie versteckte?

Die Vorstellung, dass hier in diesen Räumen tatsächlich Anne Frank lebte, hier so manches mal verzweifelte und dann wieder hoffte, und all das hier niederschrieb, ist leicht absurd und scheint unrealistisches.

Hier war sie.

Die Räume sind nicht so groß und doch wieder riesig, wenn man bedenkt, dass sie offiziell nicht existierten. Und sie sind so dunkel. Alle Fenster mussten immer – zu jeder Zeit – zugeklebt sein und außerdem noch fest verschlossen. Das kann man zwar auch alles im Tagebuch lesen, aber was das wirklich heißt, versteht man erst, wenn man es „erlebt“ hat. Jetzt begreife ich, warum sie auf dem Dachboden, wo sie ein wenig Himmel sehen kann, schreibt: „Die Sonne scheint, der Himmel ist tief-blau es weht ein herrlicher Wind und ich sehne mich so, sehne mich so nach allem…- Nach Reden, nach Freiheit, nach Freunden, nach Allein-sein.“ Aber allein war sie nicht, sondern mit sieben anderen in den Räumen „eingesperrt“, durch die ich gerade gehe.Vielleicht hat sie ihren Fuß genau dahin gesetzt, wo meiner jetzt steht, vielleicht berührte ihre Hand genau die Stelle,  an der ich gerade entlang fahre.

Hier muss man ihr doch besonders nah sein.

Das scheinen auch die anderen Besucher zu glauben, es sind Massen, aber es herrscht eine bedächtige Stille, wie in einer Kirche. Man erwartet, dass Anne Frank in diesen Räumen besonders präsent ist, vielleicht auch ihr Schicksal, ihre Gefühle besser verstehen zu können.Aber zwischen mir und ihr liegen 66 Jahre und ungefähr 40 Millionen Besucher, die seit 1960 im Anne-Frank-Haus waren. Und die Welt von heute ist mit damals nicht zu vergleichen.

Ich will es mir nicht recht eingestehen, aber sie ist unglaublich weit weg, auch wenn sie an diesem Ort ganz besonders nah sein sollte.Denn die Räume sind leer, also nicht möbliert und  man schiebt sich auf einem vorgeschriebenen Weg mit einer Horde anderer Menschen durch das Haus. Ein Gefühl dafür, wie es dort damals wohl war, bekomme ich nicht. Ich fühle nicht, wie es ist, versteckt zu sein, Angst vor jedem neuen Geräusch zu haben, wie es ist, mit sieben Menschen so eng zusammen zu leben und nie heraus zu können. Für mich bleibt das Hinterhaus, leider, nur eine Reihe von leeren, kahlen Räumen.

Beim Lesen des Tagebuchs habe ich mich ihr näher gefühlt. Im ersten Augenblick ist das enttäuschend, wenn man in diesen historischen Räumen steht. Auf den zweiten Blick ist es aber nicht mehr ganz so verwunderlich: Durch das Tagebuch können wir in ihren Kopf und in ihr Herz schauen, viel näher und intimer geht es eigentlich gar nicht mehr. Und ein Ort kann eine solche Nähe einfach nicht erzeugen. Was er aber kann, und weshalb das Anne-Frank-Haus auch unverzichtbar ist, er kann ein Platz für das Gedenken und Nicht-Vergessen sein.

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Quelle: derfarbfleck
Website: http://www.derfarbfleck.de/old
Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 22. February 2010
Kategorie: Die Welt da draußen

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