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Wir hier drinnen

Geistwesen

Sollte ich nicht ein Interview mit Rainer Langhans (70) führen?

Jetzt sitze ich hier und beweise mich als eher ungeeignet, den wohl interessantesten und sicher längsten Vortragsabend meiner LGH – Ära in wenige Sätze zu fassen, nach dem für ein Interview weder Zeit oder Gehirnleistung, noch Fragen übrig blieben.
Hatte ich mich sowohl auf einen üblichen Vortragsabend, als auch auf einen in die Jahre gekommenen Hinterweltler eingestellt, der uns überheblich-sentimental von seiner längst vergangenen Jugend und seinem Leben in der Kommune erzählen würde, so wurde ich überrascht.

Rainer Langhans erhob sich irgendwann von seinem eigens gewählten Platz am Boden der Aulabühne, zupfte an seiner weißen Leinenkleidung, fuhr sich durch die silber-graue Mähne, richtete seine kreisrunden Brillengläser und fing schließlich an, zu sprechen.

Die aufkommenden Fragen waren genauso zahlreich wie unterschiedlich.

„Wie kam es dazu?“ „Wie fühlt es sich an, naja…mit fünf Frauen? Das ist doch der Traum eines jeden Mannes, oder?“ „Was ist unsere wirkliche, unsere eigentliche Aufgabe und Existenz?“ „Dieses Jahr in der Kommune Ι…wie war das? Trauert man alledem hinterher?“ „Lebt die Revolution noch?“ „Gab es nie den Wunsch nach eigenen Kindern, einer Familie, einem Heim?“ „Und…wie war Uschi Obermaier? Und es mit ihr?“

Unsere jungen Köpfe und Seelen lauschten aufmerksam den Erlebnissen, Erfahrungen und dem daraus resultierenden Weltbild unseres „68ers“. Rainer Langhans ist ein Mensch, der eine für unsere Eltern und damit auch für uns hoch prägende Zeit so direkt erlebt hat, wie kaum ein Anderer.

Kennen Sie die Schlagzeilen über den angeblich geplanten Bombenanschlag auf den ehemaligen US Vize-Präsidenten Hubert J. Humphrey? Der Pudding war ein Protestsignal gegen den Vietnamkrieg und hätte statt Bomben von Langhans, dem besten Werfer der Kommunarden, geworfen werden sollen. Dieser jedoch wurde für einen Tag arretiert, denn der Plan war aufgeflogen.

Langhans berichtete weniger im Stile eines tattrigen Exotikers als viel mehr eines extravaganten Lehrers, dessen Lebensziel es ist, seine Angst vor dem Tod abzubauen – durch Ekstase1.

Was vorerst relativ paradox scheint, wird mit der Zeit nachvollziehbar. Denn nur das Verlassen des Körperlichen könne dem Mensch seine „eigentliche Existenz als Geistwesen“ zeigen, so Langhans. Ein solches „Geistwesen“ sei man gewesen, bevor man geboren und damit körperlich wurde, und werde man erneut, wenn man stirbt. Diese Erkenntnis solle jedem Individuum möglichst früh und schnell nahe gebracht werden.

Drogen seien zwar ein Weg, den ersten Bezug zur Ekstase zu bekommen; die Enttäuschung nach dem Rausch sei allerdings viel zu niederschmetternd, als dass diese „Hilfsmittel“ wirklich nützlich und auf Dauer ausreichend sein könnten.

Meditation, die man bei sog. „Meistern“ lernen kann, und – man höre und staune – das Internet seien für die Erhaltung und Pflege des (Welt-)Geistes effektivere und bedeutendere Aktivitäten. Das Internet und v. a. Communities stellen für Langhans die heutige Kommune dar, die für eine globale, friedliebende und gebildete Jugend unumgänglich sei.

Nur wer all sein Wissen (d. h. jegliches, auch persönliches und „privates“ Wissen) teile, könne verstehen, dass zwischenmenschliche Grenzen nicht wirklich bestehen und sich nur in körperlichen bzw. materiellen Aspekten äußern.

Die Hauptaktivitäten des heute berenteten ehemaligen Psychologiestudenten sind Meditation und die Treffen mit seinen fünf Frauen2, die er nicht wie oft behauptet als seinen „Harem“ bezeichnet und die sich „eher einen Mann halten, als dass ein Mann sich fünf Frauen hält“, so Langhans. Die sechs leben in einer Kommune, die allerdings v. a. geistige, nicht körperliche Bedeutung hat; jedes Mitglied hat eine eigene Wohnung.

Sein „Glaube“ an Ekstase verpflichtet ihn dazu, mindestens ein Zehntel seines Tages, sprich zweieinhalb Stunden, dem Meditieren zu widmen. In einen „normalen“ Tagesablauf wäre das gar nicht zu integrieren. Langhans bezeichnet jene „Geisthaftigkeit“ folglich sogar als die einzige, für uns wirklich vorgesehene Gesellschaftsform.

Vielleicht ist es genau das, was uns so fasziniert hat:

Eine Überzeugung, die beinhaltet, dass der Großteil der Menschen an ihrer „eigentlichen Existenz“ vorbei lebt, indem er sich einem gewöhnlichen Alltag in der Kleinfamilie mit vorgegebenen Strukturen, einer Hierarchie und einem durchgeplanten Tagesablauf hingibt, regt nun mal zum Nachdenken an.

Ich habe mich gefragt, ob ich mich nach einem Ausstieg sehne. Verpasse ich das eigentlich Beeindruckende und für uns alle Vorgesehene? Darf mein Körper genauso Teil von mir sein wie mein Geist und darf ich nicht auch einfach Angst vor dem körperlichen Tod haben während ich mich meines gewöhnlichen, körperlichen und geistigen Lebens freue?

Die Ekstase ist nichts Anderes, als eine zeitweilige Flucht von dieser, unserer Welt zu einer anderen Existenz. Über die verschiedenen Existenzen und deren Hierarchie lässt sich streiten. Existieren wir oder haben wir uns geistig geschaffen, um wiederum unsere geistige Existenz erst entdecken zu müssen?

Ich muss gestehen, ich möchte schlichtweg auf dieser Welt mit diesen, mich jetzt beschäftigenden Situationen und Problemen leben. Denn nur diese kann ich jetzt direkt beeinflussen und lösen. Ich möchte mich zu meinem Körper und Aktivitäten bekennen müssen – und trotzdem wäre ein bisschen mehr Esprit für eine Weltgemeinschaft sicher nützlich. Ob jene „Geisthaftigkeit“ allerdings zur Beschreibung einer Gesellschaftsform reicht, bleibt fraglich und zeugt meines Erachtens von großem körperlichem, weltlichem Wohlstand.

Anna Apeldorn

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Quelle: derfarbfleck
Website: http://www.derfarbfleck.de/old
Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 03. January 2010
Kategorie: Wir hier drinnen

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2 Kommentare zu “Geistwesen”

  1. Mir gefällt der Artikel sehr gut, ich würde nur gerne wissen, wer den geschrieben hat. :-)
    Und ist es möglich auch ohne account Kommentare zu schreiben? Das fände ich sehr sinnvoll.. Aber sonst.
    Herzlichen Glückwunsch! Der Internetauftritt ist klasse.
    Liebe Grüße Viki

    Geposted von viktoriaschwab | January 4, 2010, 11:52 | Antworten
  2. Von Anna Apeldorn, Namen vergessen, sorry…

    Geposted von lenamariafarbfleck | January 4, 2010, 19:31 | Antworten

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