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Die Welt da draußen

Aber wer stolpert denn schon?

Foto: Simplicius

Überall in Deutschland findet man sie an mehr oder weniger unmöglichen Stellen, so auch an dieser vielbefahrenen Durchgangsstraße, wie man sie in vielen Kleinstädten findet, nicht sehr hübsch, aber dafür stark befahren. Aus der Nähe hört man den Lärm einer Baustelle, es riecht nach Autoabgasen und Dreck. So ist die Ecke Werderstraße /Hauptstraße in Müllheim in Baden.

Fast.  Es fehlt nur noch ein kleines Detail, das in der Menge der anderen beinahe untergeht.  Im Gehweg liegen drei Stolpersteine für Helene Zivi, Josef Zivi und Jeanette Schwab.

Die Idee der Stolpersteine stammt von dem Kölner Künstler Gunter Demnig. Unter dem Motto „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“ will er mit seinem Projekt an die Opfer der Nationalsozialisten erinnern. Auf den kleinen Metallsteinen steht: Hier wohnte und dann der Name des Opfers, das Geburtsdatum und einige Daten des „Leidensweges“. Der Künstler persönlich haut dann die Steine in den Gehweg vor das Haus, in dem das Opfer zuletzt freiwillig wohnte. Seit 2000 hat er so in mehr als 460 Städten in Deutschland und ganz Europa Steine verlegt. Das Projekt ist vielfach ausgezeichnet und hoch gelobt worden. Es ist aber auch eine großartige Idee, so einfach und klein und doch so groß in der Symbolkraft. Bei einer „Stolpersteinverlegung“ ist das Interesse der Medien und Anwohner dementsprechend meist riesig, und die Verlegung ein festlicher Akt mit großem Echo.

Und dann? Liegt der Stolperstein da. Was passiert mit ihm, wenn alle Bürgermeister, Journalisten und Fotografen verschwunden sind. Wenn niemand mehr auf den Stein im Gehweg hinweist. Fällt er trotzdem auf? Im alltäglichen Leben zwischen Arbeit und Einkaufen, Schule und Kiosk, Zahnarzt und Fitnessstudio? Bleiben Menschen stehen, gucken, lesen, gedenken? Oder wird er vergessen?

Wie viele Menschen stolpern?

Um die Steine an der Ecke in Müllheim sind graue Steine gepflastert worden, der Gehweg ist ansonsten rot. Doch mit ihrer gold-grauen Farbe fallen die drei Stolpersteine dennoch kaum auf. Von der anderen Straßenseite aus kann man sie schon nicht mehr erkennen. Und wenn man darüber läuft?

Es ist ein Spätsommerabend. Es ist schwül, aber nicht mehr erschlagend heiß. Zwischen fünf und sechs Uhr laufen fünf Männer, vierzehn Frauen, ein Kind und zwei Jugendliche über die Stolpersteine. Elf Fahrräder fahren vorbei. Die Autos fahren schnell und sind so zahlreich, dass es sich nicht lohnt sie zu zählen. Außerdem schauen die Autofahrer hoffentlich auf die Fahrbahn und nicht auf den Gehweg.

Die erste Frau kommt, nähert sich den Stolpersteinen, sie hat als allererste natürlich eine besondere Bedeutung – und geht vorüber. Dann kommt ein Pärchen, das eindeutig zu verliebt ist, um irgendetwas anderes zu bemerken. Auch das Kind und seine Mutter laufen achtlos vorüber, sie scheinen es eilig zu haben.

Um es kurz zu machen, nur einer der dreiunddreißig Menschen sieht die Stolpersteine. Alle anderen laufen vorbei. Manche schauen nach unten, dann laufen sie über die Steine, müssten sie eigentlich sehen, aber sie gehen einfach weiter verändern ihre Haltung nicht, der Blick weiter starr nach unten. Sie träumen und nehmen nichts war. Andere unterhalten sich, telefonieren, gucken nur starr nach vorne. Auch die Fahrradfahrer schauen nach oben, nicht nach unten.

Nur ein Mann mittleren Alters, dunkle Haare, weißes Hemd , schwarze Hose, scheint die Stolpersteine wahrzunehmen, zögert einen Moment, kaum merklich, aber doch sichtbar – und geht weiter.

Hatte er keine Zeit? Keine Ruhe? Wusste er schon, was auf den Steinen steht? Oder wollte er sich damit einfach nicht beschäftigen? Mitten an einem wunderschönen, warmen Tag? Denn, was bleibt wenn man einen Stolperstein bemerkt und liest?

Hier wohnte: Helene Zivi. JG. 1878. Deportiert Theresienstadt.. Ermordet 21.1. 1943.

Sobald man diese Zeilen gelesen hat, ist es unmöglich normal weiterlaufen, als wäre nichts gewesen. Aber gleichzeitig ist da auch nicht viel, worüber man weiter nachdenken kann.

Die Worte mit denen man wohl noch am ehesten etwas verbinden kann sind „Deportiert“ und „Theresienstadt“. Da denke ich an Viehwaggons, ausgemergelte Menschen, Gaskammern, Berge von Kleidern. Aber sonst. Von Helene Zivi kann ich mir kein Bild machen, ich habe keine Vorstellung davon, wer sie war.

Wie sah sie aus? Ein wenig gealtert vermutlich, denn sie war 65 Jahre alt. Aber was heißt das schon? Vielleicht hatte sie graue Haare, vielleicht aber auch weiße? Trug sie die in einem Dutt? Oder als Zopf? Hat sie viel gelacht? Oder war sie ganz vergrämt? Und warum war sie so oder so? War sie klein oder groß? Hatte sie Rheuma? Hatte sie Kinder? Einen Mann? Hat sie gern gelesen? Konnte sie lesen? War sie gläubig? Was war ihr Lieblingsgericht? War sie herzlich? Geizig? Griesgrämig? Offen? Laut? Auffällig? War sie glücklich? Hatte sie Angst?

Nichts davon kann uns der Stolperstein erzählen. Nur einen Namen kann er uns sagen, aber über den Menschen dahinter bleibt er stumm. So ist es schwer für mich, Mitgefühl zu empfinden, Trauer, Schrecken, Fassungslosigkeit. Aber das ist auch nicht unbedingt das Ziel der Stolpersteine, vor allem sollen sie ja erinnern, damit Menschen nicht vergessen werden. Aber den Namen von Helene Zivi vergesse ich sofort wieder, weil es eben nur ein Name und kein Mensch, kein Schicksal ist, weil er mir nichts erzählen kann, was mich berührt.

Sind Stolpersteine also nun ein völlig zu Unrecht gelobtes Projekt? Sicherlich nicht. Ihre Bedeutung liegt möglicherweise gerade auch in ihrer Unscheinbarkeit. Sie werden häufig übersehen, aber dann wieder können sie uns an den merkwürdigsten Stellen begegnen und zeigen: Der Holocaust war nicht irgendwo im fernen Polen, sondern auch hier, in einer ganz gewöhnlichen Straße, in einem ganz gewöhnlichen Ort. Und auch die Opfer waren nicht eine Masse, sechs Millionen halt, sondern Einzelne, unendlich viele einzelne Menschen.

Rebekka Hammelsbeck

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Quelle: derfarbfleck
Website: http://www.derfarbfleck.de/old
Autor: derfarbfleck
Veröffentlichung: 28. December 2009
Kategorie: Die Welt da draußen

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Ein Kommentar zu “Aber wer stolpert denn schon?”

  1. gut geschrieben rebekka auch nicht zu lang also sehr lesenswert!

    Geposted von annahundhausen | December 31, 2009, 15:14 | Antworten

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