Mit dem Wechsel zur grün-roten Landesregierung hat auch das Kultusministerium eine neue Ressortleiterin gefunden: Gabriele Warminski-Leitheußer. Diese hat sich neben einer individuellen Förderung auch sozial gerechte Schulmodelle auf Ihre Wunschliste geschrieben. Wie Sie das verwirklichen will, und noch vieles mehr, verriet Sie den Chefredakteuren des farbflecks wenige Woche vor der schriftlichen Abiturprüfung in Baden-Württemberg.
derfarbfleck: Tausende Schülerinnen und Schüler in Baden-Württemberg schlottern schon die Knie. In wenigen Tagen ist es nun soweit: Die Abiturprüfungen stehen vor der Tür. Frau Ministerin, hätten Sie nicht ein paar geheime Tipps für uns?
Warminski-Leitheußer: (lacht) Ich glaube da gelten die allgemeinen Regeln. Wichtig ist Nerven behalten, Ruhe bewahren und sich einfach darauf verlassen, dass das, was man schon immer konnte, im Zweifel wieder präsent ist.  Eine gute Vorbereitung wäre natürlich auch hilfreich (schmunzelt).
derfarbfleck: Dann müssen wir das Abitur wohl ohne Ihre Hilfe schaffen. Apropos Abitur. Laut Statistischem Landesamt besuchen rund 41 Prozent aller Grundschüler nach der 4. Klasse das Gymnasium – Tendenz steigend. Werden die Schüler im Land immer besser oder die Anforderungen immer geringer?
Warminski-Leitheußer: Die Schülerinnen und Schüler lernen immer mehr, das Interesse an Bildung wächst allgemein, dadurch wächst der Wissens- und Bildungsstand logischerweise.    Der Trend zu immer höheren Bildungsabschlüssen ist klar erkennbar.
derfarbfleck: Viele Eltern und deren Kinder sehen sich im Hinblick auf die Entscheidung über die weiterführende Schulbildung massiv unter Druck gesetzt. Denn in immer mehr Berufszweigen, die früher eine Lehre voraussetzten, ist das Abitur mittlerweile zur Grundvoraussetzung geworden. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Warminski-Leitheußer: Zunächst einmal ist das eine Entwicklung, die man zur Kenntnis nehmen muss. Es hilft auch nichts, wenn wir darüber jetzt jammern. In der Tat ist es mittlerweile so, dass – abgeleitet von einem bestimmten Karriereverständnis – die meisten Leute mindestens den Realschulabschluss anstreben. Das führt zum einen dazu, dass es im Handwerk Schwierigkeiten gibt, Auszubildende zu finden, es herrscht nicht nur in diesem Bereich ein Fachkräftemangel. Meiner Meinung nach kann man allerdings auch mit Abitur Handwerker werden, wenn man das will. Zum anderen fordern die Arbeitgeber immer höhere Qualifikationen bis hin zum Abitur. Aber letztlich geht es darum, dass jeder Mensch seine Talente so umfassend wie möglich entfalten kann, bevor er sich für einen Beruf entscheidet. Man sollte das generell als Chance sehen und sich dabei nicht unter Leistungsdruck setzen.
derfarbfleck: Befürchten Sie nicht, dass es so zu einer massiven Abwertung von Schulabschlüssen, z.B. des Hauptschulabschlusses kommt?
Warminski-Leitheußer: Ich bin generell der Meinung, dass jeder den bestmöglichen Abschluss machen sollte, den er für sich erreichen kann. Hier geht es nicht nur um Abschlüsse, es geht auch um Persönlichkeitsentwicklung. Was die Abwertung von Schulabschlüssen angeht, wiederhole ich mich gerne: Ob ich als Bildungspolitikerin diese Entwicklung nun gut oder schlecht finde, ändert nichts an der Tatsache, dass die Wirtschaft höhere Qualifikationen fordert. Das erzeugt durchaus einen gewissen Sogeffekt. Die eigentliche Herausforderung ist aber, dass wir die jungen Menschen darauf vorbereiten, ein Leben lang zu lernen. Wir sollten künftig weniger in Schularten und ihren begrenzenden Abschlüssen denken, vielmehr sollte jeder das Bestmögliche für sich erreichen können.
derfarbfleck: Sie sprachen die Persönlichkeitsentwicklung an. Diese rückt immer weiter in den Bereich der Schulen, z.B. durch das Ganztagesangebot. Die Kinder verbringen immer mehr Zeit in den Schulen und weniger bei ihren Eltern. Was müssen Schulen heute mehr leisten, um Kindern eine solche Entwicklung zu ermöglichen?
Warminski-Leitheußer: Ich würde nicht sagen, dass die Bedeutung der Familie durch die Schule abnimmt, ganz sicher nicht.  Die Schule hat für die Lern- und Bildungsprozesse der Kinder und Jugendlichen eine überaus wichtige Funktion, die sogar zunimmt. Dabei geht es immer auch darum, gemeinsam mit anderen zu lernen. Nicht zuletzt hat Schule auch die Funktion, auf eine gut funktionierende demokratische Bürgergesellschaft vorzubereiten. Das kann eine Familie allein nicht leisten. Also, die zunehmende Bedeutung der Schule bringt auch große Vorteile für die Kinder. Wichtig ist, dass Familien und Schulen in sehr gutem Kontakt sind und dass sie zum Wohl der Schülerinnen und Schüler gemeinsame Ziele verfolgen.  Es ist in unser aller Interesse, dass alle Kinder unserer Gesellschaft sich zu Persönlichkeiten entwickeln können, die ihren Weg im Leben finden. Das ist für die Familien genauso wichtig wie für das Gemeinwesen.
derfarbfleck: Wir hatten’s vorhin von der Entscheidung bezüglich der weiteren Schulausbildung. Diese lag bis dato in der Verantwortlichkeit des zuständigen Grundschullehrers. Sie haben die verbindliche Schulempfehlung abgeschafft, um somit mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Warum schafft das mehr soziale Gerechtigkeit?
Warminski-Leitheußer: Wir wissen seit langem, dass die Eingliederung in verschiedene Schularten im Alter von etwa zehn Jahren nicht der richtige Weg ist. In diesem Alter können die Talente der Kinder nicht so entwickelt sein, dass der künftige Weg klar ist. Wir wissen außerdem durch die PISA-Studien, dass die Zuteilung zu den verschiedenen Schularten nicht nach wirklicher Kompetenz, sondern nach sozialem Hintergrund erfolgt. Das ist in höchstem Maße ungerecht. Deshalb haben wir die Verbindlichkeit der Empfehlung abgeschafft. Dafür treffen die Eltern nach eingehender Beratung durch die Lehrkräfte ihre Entscheidung. Das ist für uns auch der Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Wir wissen aus bundesweiten Studien, dass Kinder mit Migrationshintergrund oder aus schwierigen sozialen Verhältnissen eine wesentlich bessere Leistung zeigen müssen, um die gleiche Empfehlung zu bekommen, wie ein Kind aus einem Akademikerhaushalt. Ich bin auch überzeugt davon, dass es ein elementarer Teil des Elternrechts ist, zu entscheiden, welche Schule ein Kind besuchen soll. Wir müssen es schaffen, dass jedes Kind optimal lernen kann und dass seine Fähigkeiten nicht eingeschränkt werden.
derfarbfleck: Aber denken Sie nicht, dass dieses System eher zu sozialer Ungerechtigkeit führt? So können beispielsweise betuchtere Haushalte ihr Kind aufs Gymnasium schicken und dort Unsummen für Nachhilfe o.Ä. ausgeben, während ärmere Elternhäuser das nicht können.
Warminski-Leitheußer: Das ist genau die Aufgabe von  Bildungspolitik: Die öffentliche Schule so zu gestalten, dass eben das nicht weiter passiert und dass alle Kinder in den Schulen gleichermaßen gefördert werden. Jeder soll die gleiche Chance erhalten, unabhängig von der sozialen Herkunft der Eltern.
derfarbfleck: Grundschulempfehlung hin oder her, was kommt eigentlich danach? Hauptschule, Werkrealschule, Berufliches Gymnasium, Realschule…Die Liste würde sich noch um einiges länger ausführen. Jetzt sollen in Zukunft wieder G9-Züge angeboten werden. Sorgt das nicht zusätzlich nur für unnötige Verwirrung?
Warminski-Leitheußer: Nein, schließlich geht es doch um die Situation vor Ort. Die Kommunalpolitiker, Schulen und Eltern wissen am besten, welche Schule und welcher Abschluss notwendig ist und sie können das auch vorantreiben. Deshalb ist das nicht verwirrend. Die neue Landesregierung wird auch nicht alles verändern, sondern nur da Schritt für Schritt Änderungen umsetzen, wo es notwendig ist und Verbesserungen erreicht werden.
derfarbfleck: Bald gibt es sogar noch einen weiteren Nachwuchs im baden-württembergischen Schulsystem: Ihr „Baby“ namens Gemeinschaftsschule soll noch 2012 Realität werden. Warum noch eine Schule? Was zeichnet die Gemeinschaftsschule aus?
Warminski-Leitheußer: Die Gemeinschaftsschule ist eine Schulform, in der alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam lernen. Das heißt, gelehrt und gelernt wird im Wechsel von klarer zielgerichteter Lehrerinstruktion, individuellem selbstorganisiertem Lernen sowie kooperativen Lernformen. Die Basis bildet die konsequente individuelle Förderung, auch um die Stärken des jeweiligen Schülers zu erkennen. Jungen Menschen muss erst einmal dabei geholfen werden,  wahrzunehmen, was sie gut können. Im Moment funktioniert das Schulsystem oft nach dem Prinzip „wenn du das nicht kannst, gehörst du nicht hierher“  – also Fehlerorientierung anstatt Talentsuche – und das müssen wir ändern.
derfarbfleck: Aber auch im aktuellsten PISA-Test von 2009 lag BW wie in den vorangegangenen Jahren unter den Top drei bundesweit. Wieso also ein erfolgreiches System revolutionieren wollen?
Warminski-Leitheußer: Ich würde sagen, es ist eher eine Evolution, keine Revolution (lächelt). Es geht mir also darum etwas weiter zu entwickeln. Die Leistungen in der Spitze sind unbestritten – und die wird uns auch niemand mehr nehmen. Allerdings haben wir nach wie vor im internationalen Vergleich Schwächen, die wir  korrigieren müssen. Und wir müssen uns auf die Herausforderungen der Zukunft deutlich besser vorbereiten als dies bisher geschehen ist. Denken Sie nur an den Rückgang der Bevölkerungszahl und an den zunehmenden Fachkräftemangel. Mit dem Lernkonzept der Gemeinschaftsschule wollen wir allen Schülerinnen und Schülern eine Möglichkeit bieten, zumindest bis zum 10. Schuljahr gemeinsam zu lernen. Da geht es sowohl darum, die soziale Benachteiligung zu reduzieren als auch darum, die Leistung weiter zu verbessern.
derfarbfleck: Eine Besonderheit dieses Schultyps soll das Fernbleiben von Ziffernoten und das Abschaffen von Sitzenbleiben beinhalten. Geht auf diese Weise nicht jeder Leistungsansporn verloren?
Warminski-Leitheußer: Es ist in der Tat so, dass das Sitzenbleiben abgeschafft ist. Wir wissen aus Studien, dass Sitzenbleiben keine Erfolge für den Einzelnen mit sich bringt. Bei welchem Kind sollte etwas so Demütigendes wie das Sitzenbleiben einen Leistungsansporn bringen? Das Gegenteil ist der Fall. Wichtig ist zielgerichtetes individuelles Lernen und ebenso individuelles Feedback durch die Lehrkräfte, das weiterhilft beim eigenen Lernfortschritt. Die Note selbst ist eine Orientierung, die vor allem beim Abschluss wichtig ist, die allein aber nicht ausreicht, wenn Lernen auf Dauer erfolgreich sein soll.
derfarbfleck: Sie sagten die Gemeinschaftsschule wird ein Meilenstein in der Bildungspolitik. Befürchten Sie mittlerweile nicht eher, dass es ein Stolperstein für Sie werden könnte?
Warminski-Leitheußer: Nein. Das, was wir jetzt voranbringen, ist echte Kärrnerarbeit, denn für viele Menschen ist es in der Tat ein Paradigmenwechsel. Aber wissen Sie, wenn ich eine der 34 Starterschulen besuche, dort mit den Schülerinnen und Schüler und den Lehrerinnen und Lehrern spreche und ihre Begeisterung sehe, dann weiß ich, wie wichtig unsere Arbeit ist.
derfarbfleck: Auch unsere Schule, das Landesgymnasium für Hochbegabte, hat sich auf Ihre Fahnen geschrieben die Schüler bestmöglich zu fördern…
Warminski-Leitheußer: … und ich muss wirklich sagen, es interessiert mich brennend: Wie funktioniert individuelle Förderung genau an Ihrer Schule? (lächelt) In meinen Unterlagen steht zwar, wie es theoretisch funktioniert, aber wie ist die konkrete Umsetzung?
derfarbfleck: Es gibt natürlich verschiedene Ansatzweisen, wie individuelle Förderung funktioniert. In der Unter- und Mittelstufe gibt es beispielsweise das Schienensystem in den Fremdsprachen und der Mathematik. Die verschiedenen Kurse werden hierbei ausschließlich nach Können und Interesse der Schüler besetzt. So kann es schon einmal vorkommen, dass man als Zehntklässler auf einmal in Mathe neben einem Siebtklässler sitzt und der sogar noch besser ist als man selbst. Des Weiteren gibt es natürlich noch die Addita, also Zusatzunterricht, die jeder Schüler frei wählen kann. Hier kann ganz individuell ausgesucht werden: Von Chinesisch und Arabisch bis hin zu Mathematik-Spitzenförderung ist da alles dabei.
Warminski-Leitheußer: Und wie sieht der Kontakt zwischen Lehrern und Schülern aus? Wie wird hier die individuelle Komponente verarbeitet?
derfarbfleck: Neben dem engen Kontakt, den man durch die Internatsatmosphäre ohnehin hat, gibt es bei uns noch das System des Gymnasialmentors. Jeder Schüler sucht sich zu Beginn seiner Schulzeit am LGH einen Lehrer aus, der ihn dann auf seinem Weg durch die Schule begleitet. Die Funktion des Gymnasialmentors geht von Vermittlung zwischen Schüler und Kollegium über gemeinsame schulische Zielsetzung bis hin zu fast schon elterlicher Fürsorge im Falle von Problemen.
Warminski-Leitheußer: Was mir besonders gut am Landesgymnasium gefällt, ist die Tatsache, dass ja nicht nur Höchstleister aufgenommen werden. Soweit ich informiert bin, werden in jeder neuen Klasse bis zu drei  andere Schülerinnen und Schüler aufgenommen, die dann in die Schulfamilie integriert werden. Diesen Ansatz, der ja eigentlich auch der Gemeinschaftsschule zu Grunde liegt, finde ich ganz hervorragend.
derfarbfleck: Das hört sich ja gut an. Aber wie wichtig ist Hochbegabtenförderung eigentlich für Sie? Ist dafür überhaupt noch Platz auf der Bildungsagenda?
Warminski-Leitheußer: Jetzt kommen die Ideologen wieder! (lacht). Wichtig ist, und da wiederhole ich mich gerne, dass jeder Einzelne gleichermaßen gut gefördert wird. Dazu gehört auch eine ethische Erziehung, die etwa fragt: In welcher Welt wollen wir leben? Wie wollen wir miteinander leben? Wie wollen wir die Welt und unser Miteinander gestalten? Darauf muss die Schule eine Antwort geben. Dazu gehören auch Verantwortung und ein soziales Gewissen, das niemanden ausgrenzt
derfarbfleck: Dann wir d es Sie sicherlich freuen zu hören, dass dieses Menschenbild auch vom Leitbild unserer Schule verkörpert wird. Intelligenz an sich ist ein Rüstzeug, das aber erst wertvoll wird, wenn es in den sozialen Dienst gestellt wird.
Warminski-Leitheußer: (lächelt) Ich finde es schön, dass das in Ihrer Schule so selbstverständlich ist.
derfarbfleck: Sie würden also schon sagen, dass Schulen wie das Landesgymnasium in eine grün-rote Bildungspolitik passen?
Warminski-Leitheußer: Ja, natürlich.
derfarbfleck: Sind denn Schulen wie die unsrige sozial gerecht?
Warminski-Leitheußer: Da an Ihrer Schule kein Schulgeld erhoben wird und – was ich so gehört habe – sogar ein privater Förderkreis existiert, der sozial Benachteiligten unter die Arme greift, lässt sich diese Frage leicht bejahen (lächelt)
derfarbfleck: Frau Ministerin, wir bedanken uns bei Ihnen dafür, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben, und vor allem dafür, dass Sie unserer Schule gegenüber so viel Interesse gezeigt haben.
Das Interview führten David Irion und Johannes Gansmeier
Gabriele Warminski-Leitheußer, geboren am 26. Februar 1963 in Waltrop,
1982 Abitur in Waltrop, anschließend Ausbildung zur Diplomverwaltungswirtin,
1986-1994 Jurastudium an der Ruhr-Universität-Bochum,
1992 Austritt aus der SPD,
1999 Wiedereintritt in die SPD,
2008-2011 Bürgermeisterin für Bildung, Jugend, Sport und Gesundheit der Stadt Mannheim,
seit 2011 Ministerin für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württembergs
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